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Bosnien und Herzegowina: Mit Rock gegen Nationalismus

Published on

Story by

Alizée Gau

Translation by:

Julia Korbik

Impact

Seit dem Bosnienkrieg in den 1990er Jahren ist Mostar eine geteilte Stadt. Doch seit 2012 kämpft eine ungewöhnliche Einrichtung gegen Vorurteile und Hass: die Mostar Rock School. Bereits über 500 junge Leute wurden hier ausgebildet - und haben die verbindende Macht der Musik kennengelernt. 

Ein Donnerstagnachmittag im bosniakisch-östlichen Teil Mostars. Mit ihren leeren Straßen und schlafenden Häusern verschleiert die stille Stadt geschickt, was sich ein paar hundert Meter von ihrem Epizentrum entfernt zusammenbraut. Hinter den dicken Mauern eines großen, gut isolierten Gebäudes verraten nur die Flügel einer sich sporadisch öffnenden und schließenden Tür, dass drinnen eine Party stattfindet. Zwischen Zigarettenrauch, Scheinwerferlicht und Bierpfützen hat sich im hinteren Teil des Raums eine Gruppe Musiker versammelt und spielt vor einer dichtgedrängten Menge. Gekonnt reihen vier Jugendliche verschiedene Indie-Rock-Stücke aneinander, verbeugen sich mit einer Pirouette und überlassen die Bühne der nachfolgenden Gruppe. Willkommen an der Mostar Rock School, die Schule in Mostar, die den Nationalismus abschaffen will.

Geschichte der Gewalt

Um die Begeisterung junger Menschen für diesen außergewöhnlichen Ort in Bosnien und Herzegowina zu verstehen, muss man zunächst zurückblicken: Vor 25 Jahren, im damaligen Jugoslawien, war Mostar noch eine historische Etappe zwischen Orient und Okzident und zählte zu den multikulturellsten Orten in Europa. In der Stadt lebten ebenso viele Muslime wie kroatische Katholiken oder serbische Orthodoxe, 60 Prozent der Ehen waren gemischt. Der bosnische Krieg von 1992 zerstörte diese Idylle: Während fast alle Orthodoxen aus der Region in die serbischen Gebiete flohen, standen sich bosnische Muslime und kroatische Katholiken in gewalttätigen Auseinandersetzungen gegenüber - eine Konfliktlinie, die die Stadt teilte. Seit der Unterzeichnung des Abkommens von Dayton 1995 haben die muslimische und die katholische Bevölkerung sich völlig in ihre jeweiligen Stadtteile zurückgezogen und der einstmals berühmte Verbindungspunkt - die Brücke zwischen Ost und West - war nichts mehr als ein Trümmerhaufen.

Zwanzig Jahre später überspannt die Brücke Stari most, ein Wahrzeichen der Stadt, erneut den Fluss Neretva: Sie wurde von der UNESCO wieder aufgebaut. Aber auf der ehemaligen Kampflinie, die zur Hauptarterie der Stadt geworden ist, lassen die durchlöcherten Mauern nicht nur den Wind durch, sondern auch die Geister der Vergangenheit. Seit Kriegsende leben die katholischen Kroaten und die bosnischen Muslime in eigenen Vierteln, schicken ihre Kinder in getrennte Schulen, besuchen getrennte Krankenhäuser, Bars und Sportclubs. Die Jugendlichen gehören zu einer neuen Generation, die nach dem Krieg geboren wurde. Aber egal ob Fernseh-Magazine, nationalistische Plakate an jeder Straßenecke, Familienessen oder Schulunterricht: Es ist unmöglich, die Teilung zu vergessen, die die Stadt auch heute noch in zwei Teile aufspaltet und jede Beziehung mit dem Nachbarn schwierig macht.

Zuhause ist, wo...

Orhan Maslo, Gründer der Mostar Rock School, war 17, als der Bosnienkrieg endete. Mit 14 schloss er sich den bosnischen Truppen an und war einer der jüngsten Soldaten des Landes. Durch mehrere internationale Kultur-Organisationen, die sich nach dem Krieg in Mostar niederließen, entdeckte er die Musik, insbesondere das Schlagzeug. Mit 28 Jahren schloss er sich Dubioza an, einer jugoslawischen Rockband, und begann eine internationale Musikkarriere. „Wir waren immer unterwegs, sind von einem Land ins andere gereist. Wenn ich auf der Bühne stand, war ich glücklich. Aber während der langen Busfahrten habe ich oft an Mostar gedacht. Ich spürte, dass ich dorthin zurückkehren, etwas für dieses Land tun musste.“

Letztendlich stieg Orhan bei Dubioza aus, kehrte nach Bosnien zurück und eröffnete eine interkulturelle Musikschule in derselben Stadt, in der er eins gekämpft hatte. Im Juni 2012 versammelte er seinen ersten Jahrgang: acht junge Musikerinnen und Musiker von beiden Seiten, die per Bus eine gemeinsame Integrationsreise nach Skopje machten. „Am Anfang war die Stimmung frostig. Die Muslime saßen vorne im Bus, die Katholiken hinten. Ich habe mich in die Mitte des Busses gesetzt und von meinen Tour-Erlebnissen erzählt. Schließlich hat sich ein Gespräch ergeben. Als wir zum ersten Mal für eine Pause anhielten, hatten sich die Dinge bereits geändert.“

Einige Tage später kehrte die Gruppe nach Mostar zurück, völlig verändert durch diese gemeinsame, durchaus heikle, musikalische Woche. Während des Sommers gingen die Gerüchte um. Und als zu Herbstbeginn neun zusätzliche Plätze angeboten wurden, erhielt die Schule über 90 Bewerbungen. Heutzutage nimmt die Rock School jedes Jahr etwa hundert Schülerinnen und Schüler aus Mostar und anderen Städten des Landes auf. 

„Jedes Schuljahr ist in fünf Zyklen eingeteilt”, erläutert Orhan. „Vor jedem neuen Zyklus werden die Gruppen aufgelöst und neu zusammengestellt und zwar so, dass sich am Ende alle getroffen und zusammen gespielt haben.“ Die ethnische Parität, am Anfang aufgezwungen, entsteht nun durch die musikalischen Vorlieben ganz natürlich. Jeden Sommer organisiert die Schule Touren und Camps in 18 Städten des Landes. Aber Orhan Maslo reicht das noch nicht: Demnächst will er eine mobile Rock School gründen und regelmäßig musikalische Workshops in den umliegenden Dörfern organisieren.

Ein UFO in einem Feld voller Ruinen

Zwar fühlen sich viele junge Leute in dieser Rock-Schule wohl, für einige ist sie eine Art zweites Zuhause geworden. Aber Familie und Freunde haben dafür oft kein Verständnis. „Im Schulunterricht haben einige Klassenkameraden Schwierigkeiten zu verstehen, was ich dort mache, warum ich mich mit Muslimen abgebe“, erklärt einer der Schüler. „Ihre Familien haben während des Krieges gelitten, es gibt viele Vorurteile.“ Es passiert auch, dass Schüler auf Probleme stoßen und sich für ihre Besuche an der Rock-Schule rechtfertigen müssen. „Wenn der Druck durch das Umfeld zu groß ist, kommen einige Schüler monatelang nicht, manchmal sogar ein Jahr“, bestätigt Orhan Maslo. „Andere kommen irgendwann wieder. Manchmal beruhige ich die Eltern und erkläre, dass ihrem Kind von der anderen Seite keine Gefahr droht.“

Die Familien der Schüler werden deshalb systematisch zu jedem von der Schule organisierten Konzert eingeladen. Der unerwartete Nebeneffekt ist eine manchmal sonderbare Verbindung zwischen den bosnischen Muslimen und den kroatischen Katholiken, die gekommen sind, um ihren Nachwuchs in der festlichen und lautstarken Atmosphäre der Konzerte anzufeuern. Für einen Moment könnte man fast glauben, dass alles so ist wie es vor dem Krieg einmal war. Aber Bosnien ist weit davon entfernt, seine Wunden geheilt zu haben: Immer noch wird es von den ethnischen Genoziden der 1990er Jahre verfolgt und von der aktuellen nationalistischen Politik untergraben. Es wird wahrscheinlich noch weitere Jahrzehnte brauchen, um die Spaltungen zu überwinden und die Gesellschaft zu reformieren. Wie ein UFO, das in einem Feld von Ruinen gelandet ist, hat die Mostar Rock School hunderten von Jugendlichen eine Flucht aus dem oft schwierigen Alltag geboten. Und jeden Tag einen guten Grund, erneut die alte Trennlinie zu überwinden.

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Story by

Translated from Bosnie-Herzégovine : du rock contre les nationalismes