Bosnien und Herzegowina: Die Jugend, die von Europa träumt
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Mandy MummertZwei Jahrzehnte ist es her, dass der Krieg ihr Land zerrissen hat: Heute hoffen die Bürger Bosnien und Herzegowinas auf den Beitritt zur EU. Viele wollen nicht länger warten und ziehen zu Hunderttausenden Richtung Westen, in Hoffnung auf ein besseres Leben. Doch es gibt auch die, die in ihrer Heimat bleiben - um wieder aufzubauen, was zerstört wurde.
Sarajevo im November 2017. Tarik sitzt in einer Bar im Herzen des osmanischen Viertels und trinkt ruhig seinen bosnischen Kaffee, „eine Art türkischer Kaffee, aber besser“, präzisiert er. Zu Beginn dieses sonnigen Nachmittags vernimmt man aus der Ferne den Ruf zum Dhuhr-Gebet. Bereits früher am Tage haben die Glocken der Kathedrale von Sarajevo geläutet. Auch 22 Jahre nach Ende des Krieges, der Bosnien und Herzegowina (B&H) zerrissen und mehr als 100 000 Tote gefordert hat, sind die Wunden noch nicht verheilt. „Als 1992 der Krieg ausbrach, wäre ich fast dabei draufgegangen. Zum Glück hat unsere kroatische Nachbarin, die kathologisch war, uns bei sich versteckt“, erinnert sich Tarik. Seine muslimische Familie wäre, wie so viele andere, aufgrund ihrer Konfession beinahe ausgelöscht worden. Die Stadt trägt noch die Narben aus jener Zeit, so wie die von Einschusslöchern übersäten Häuser im Westen Sarajevos.
Draußen, auf der Ferhadija-Straße, geht Tarik am Museum für Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorbei, das vor etwas mehr als einem Jahr eröffnet wurde. Der angehende Ingenieur ist Master-Student an der Universität von Sarajevo. „Ich möchte gern in Bosnien bleiben und hier mein Leben aufbauen. Ich strebe nicht unbedingt danach auszuwandern, auch wenn ich nach Deutschland gehen könnte, wovon die meisten Leute hier träumen“, erläutert er. Eine für einen jungen Bosnier ungewöhnliche Einstellung: Der Großteil der bosnischen Jugend träumt nämlich davon, in die Europäische Union abzuhauen.
„Ein großes nationales Problem“
Peter Van Der Auweraert von der Internationalen Organisation für Migration (IOM) und dort Koordinator für den westlichen Balkan, bestätigt dies: „Das Problem in Bosnien sind vor allem die Bosnier, die zum Arbeiten in die Europäische Union gehen.“ In den vergangenen vier Jahren seien 150 000 Menschen fortgegangen, was ein großes nationales Problem darstelle. Van Der Auweraert, zuständig für Migrationsfragen in B&H, Serbien, Mazedonien und Montenegro, bedauert diese Bevölkerungsflucht in die EU, deren Beitrittskandidat B&H seit 2016 ist.
Neben der Arbeitslosenquote von mehr als 20 % beklagen die jungen Leute in Bosnien und Herzegowina insbesondere die mangelnde wirtschaftliche Perspektiven: „Ich mit meinem Ingenieurdiplom kann hier eine Arbeit finden, aber damit bin ich die Ausnahme“, erläutert Tarik. Er wäre gern Journalist geworden, weiß aber sehr wohl, dass er in seinem Land nur in wenigen Berufsfeldern Chancen auf einen Arbeitsplatz hat. Was soll's, könnte man sagen. Denn das, was in Bosnien-Herzegowina die meisten Ängste auslöst, sind die wieder zunehmenden Spannungen zwischen den drei Konfessionen, die die Föderation bilden (50,7 % Muslime, 30,7 % Orthodoxe und 15,2 % Katholiken, nach Angaben des französischen Außenministeriums, A.d.R.) - eine konfessionnelle Einteilung, die der ethnischen Einteilung zwischen Bosniern, Serben und Kroaten entspricht. Seit dem Krieg der 90er Jahre hat das Land einen von fünf Einwohnern verloren, ganze 19,3 % seiner Bevölkerung. 2016 zählte B&H 3 531 159 Einwohner - 1991, ein Jahr vor Ausbruch des Konflikts, waren es noch fast 4,4 Millionen 1991.
„Der Krieg war kein Krieg der Religionen, die Politiker haben Religion nur für die Bedienung ihrer eigenen Interessen benutzt“, erklärt Pater Hrvoje Vranjes, katholischer Vertreter im 1997 gegründeten Interreligiösen Rat von Bosnien und Herzegowina. Die Mitglieder dieser aus Vertretern der muslimischen, orthodoxen, katholischen und jüdischen Religion bestehenden Instanz sind über die anhaltenden Spannungen zwischen den verschiedenen Glaubensgemeinschaften beunruhigt. In den Augen dieser sich für den interreligiösen Dialog einsetzenden Geistlichen nutzen die Politiker die Religion und die aus dem Krieg verbliebenen Spannungen, um ihre eigenen Interessen voranzubringen. „Niemand will nochmal einen Krieg erleben, also gehen alle lieber fort“, erklärt Tarik. Ob jung oder alt, jeder versucht sein Glück in der Europäischen Union, insbesondere in Deutschland - vor allem, wenn bereits Familienmitglieder im Ausland leben. Ein Zeugnis dieses Ansturms auf das deutsche Eldorado: Die deutsche Regierung hat 2015 eine Regelung verabschiedet, welche die Einwanderung von Personen aus den Balkan-Ländern regulieren soll. Diesem Dokument zufolge sollen bis 2020 nur 22 000 Bosnier eine Arbeitserlaubnis erhalten.
Schmuggel, Transit und Baby-Revolution
Während Bosnien und Herzegowina auf seinen Beitritt zur EU wartet, gibt sich das Land damit zufrieden, ein „Durchgangspunkt“ zu sein, sowohl für seine eigenen Staatsangehörigen als auch für jene Menschen, die einen Weg in die EU suchen. Seit der Schließung der „Balkanroute“ im Jahr 2016, über die mehr als eine Million vor Not und Krieg flüchtende Menschen kamen, ist B&H zu einer alternativen Route für den Weg in die EU geworden. Nach Angaben der IOM, welche die Migrationsströme in der Region misst, hat die Zahl der das Land passierenden illegalen Migranten zwischen 2016 und 2017 um 350 % zugenommen.
Und dabei hat das Land, seitdem es am 20. September 2016 zum offiziellen EU-Beitrittskandidaten wurde, mit Europa eine Art Pakt geschlossen: Wenn die bosnische Regierung ihren Bürgern freien Personenverkehr im Schengen-Raum bieten möchte (nur für eine maximale Dauer von drei Monaten, A.d.R.), muss der Staat alles daran setzen, seine Grenzen zu sichern und die illegale Migration einzudämmen. Und damit tut er sich schwer, so Amela Efendic, Leiterin des Internationalen Forums für Solidarität - Emmaus: „Bosnien wird von den Schleusern als Transitland in Richtung EU benutzt, und dieser Menschenschmuggel ist immer schwieriger aufzudecken“, erläutert sie. „Die Polizei tut nicht genug dafür, um den Menschenhandel zu stoppen. Dabei genügt es beispielsweise, raus auf die Straße zu gehen, um zu sehen, dass Kinder zum Betteln gezwungen werden.“
So wie Tarik sind es viele junge Menschen leid, gegen die Bürokratie ihres Landes ankämpfen zu müssen. Jede behördliche Änderung des Status, ob Wohnort oder Arbeit, dauert ewig lange. Selbst Tarik, der sich eine Zeit lang in der Stadtverwaltung Sarajevos engagierte, hat sich mittlerweile von der Politik entfernt: „Alles ist so kompliziert und dezentralisiert, dass man keinerlei Einfluss darauf hat, die Dinge zu ändern, ganz gleich, welche öffentliche Funktion man innehat.“
Bosnien und Herzegowina ist nicht nur in zwei Föderationen unterteilt (die Bosnische Föderation und die Republik Srpska, A.d.R.), sondern auch stark dezentralisiert. Es wird von drei Präsidenten regiert, einer für jedes Volk - Kroaten, Bosnier, Serben -, mit ebenso vielen dazugehörigen Regierungen, Parlamenten und Verwaltungen: Ein Verwaltungs-Wirrwarr, das ursprünglich die Repräsentativität aller Bürger gewährleisten sollte. Tatsächlich aber verkompliziert es ihren Alltag und ermüdet sie. Im Februar 2013 beispielsweise gab es eine Uneinigkeit zwischen den verschiedenen Entitätent, infolge derer Neugeborene keine nationale Identifikationsnummer und somit auch keine Ausweispapiere mehr erhalten konnten. Die daraufhin folgenden Demonstrationen wurden unter dem Namen „Baby-Revolution“ bekannt. Nur ein Beispiel von vielen für die täglichen Schwierigkeiten, mit denen sich die Bürger auseinandersetzen müssen.
Der Mut, zu bleiben
Tarik schlängelt sich zwischen den Geschäften der an einen Basar erinnernden Gassen im osmanischen Viertel Sarajevos entlang. Er ist auf dem Weg zu einem Meeting der von ihm herausgegebenen partizipativen Jugend-Zeitung Preventeen, die kostenlos in den Schulen B&Hs verteilt wird. Der junge Bosnier nimmt an einem Projekt zur Sensibilisierung von Studenten für alle möglichen Formen von Sucht teil. „Das ist ein äußerst wichtiges Thema. Es ist wichtig, sich für die Jugend in Bosnien zu engagieren, denn sie ist die Zukunft des Landes“, macht er deutlich. Seine Einstellung wird vom katholischen Priester Simo Marsic geteilt. Dieser ist Verantwortlicher des pfarramtlichen Jugendzentrums in Sarajevo und setzt sich für den interreligiösen Dialog ein: „Wir möchten den jungen Menschen helfen, sich hier eine Zukunft aufzubauen, auch wenn es schwer ist. Sie werden später in der Politik, in der Wirtschaft arbeiten, sie werden die Säulen der Gesellschaft von morgen sein.“ Im Hier und Jetzt allerdings mangelt es vielen bosnischen Jugendlichen an Perspektiven.
Doch auch wenn viele Bosnien verlassen wollen – andere kehren wieder zurück. So wie der junge Pater Pavle Mijovic, theologische Lehrkraft an der kathologischen Universität von Sarajevo. Als er acht Jahre alt war, floh seine Familie vor dem Krieg nach Kroatien, wo er sein Studium absolvierte, bevor er seine Priester-Ausbildung in Rom begann: „Als ich in Rom war, bekam ich das Angebot, in meiner Geburtsstadt Sarajevo zu unterrichten. Ich wusste, wenn der Herr mich nach B&H zurückgerufen hatte, dann geschah dies, um dort etwas zu bewirken“. Er setzt sich stark für den Dialog zwischen den verschiedenen Religionen B&Hs (katholisch, muslimisch, orthodox) ein und hat in Partnerschaft mit den drei theologischen Fakultäten Sarajevos einen Ausbildungsgang für interreligiöse Studien und Frieden ins Leben gerufen. Er hofft, so zum Wiederaufbau seines Geburtslandes beizutragen. Ein Vorhaben, an dem auch Tarik sich noch mehr beteiligen will, wenn er erstmal sein Ingenieurdiplom in der Tasche hat. Für sein Bleiben hat er gute Gründe: „Wenn ich fortginge, da bin ich mir sicher, würde ich niemals anderswo einen solchen Kaffee bekommen.“
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Translated from Bosnie : ces jeunes qui rêvaient d’Europe