Boko Haram: Massaker im Schatten von Charlie
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Anfang des Jahres ereignete sich einer der blutigsten Terroranschläge dieses Jahrtausends. Es ist nicht etwa von Frankreich die Rede, sondern von Nordost-Nigeria. Verglichen mit Charlie Hebdo sind Nachrichten über das von Boko Haram verübte Massaker jedoch kaum mehr als Fußnoten. Zeit für einen Blick über das Mittelmeer.
Es ist der 11. Januar, nur wenige Tage nach den Terrorakten in Paris. Live am Bildschirm erlebt die Welt eine historische Mobilisierung von Franzosen aus allen gesellschaftlichen Gruppen: Millionen von Menschen zeigen sich auf den Straßen von Paris mit den Opfern solidarisch. Die Parolen „Je suis Charlie“, „Je suisJuif“ und „Je suis Ahmed“ sind allgegenwärtig. Schilder mit der Aufschrift „I am Baga“ sucht man allerdings fast vergeblich.
Tatsächlich kostete Anfang Januar 3700 Kilometer weiter südlich eine Serie islamistischer Terroranschläge im Krisengebiet Nordost-Nigerias weit mehr als 17 Menschenleben. Ein perverser Zufall wollte es, dass die jüngsten, bislang verheerendsten Massaker seitens der nigerianischen Dschihadisten-Gruppe Boko Haram just am 7. Januar - dem Tag des Pariser Redaktionsanschlags - ihren grausamen Höhepunkt erreichten.
Seit dem 3. Januar hatten die Islamisten die nigerianischen Städte Baga, Doron Baga und umliegende Ortschaften angegriffen, Häuser niedergebrannt und Hunderte von Menschen getötet. Die genaue Anzahl der Opfer ist unbekannt, Augenzeugen und Einschätzungen von Menschenrechtsorganisationen zufolge könnte die Zahl der Toten bei etwa 2000 liegen. Von Amnesty International und Human Rights Watch veröffentlichte Satellitenbilder zeigen das Ausmaß der Verwüstung: Allein in Doron Baga wurden mehr als 3000 Gebäude zerstört. Der von der nigerianischen Regierung mit rund 150 Toten angegebene Schätzwert klingt auch in Anbetracht dessen zweifelhaft niedrig. Doch es blieb niemand vor Ort, verständlicherweise, um die Toten zu zählen.
Westliche Bildung ist Sünde
Mittlerweile hat sich die im Jahr 2002 gegründete Islamistensekte Boko Haram zu dem Anschlag bekannt. In einem Video droht ein Mitglied der Terrorgruppe, bei dem es sich womöglich um deren oft totgesagten Anführer Abubakar Shekau handelt, weitere Terrorakte dieser Art an - die bisherigen Anschläge seien bloß „die Spitze des Eisbergs.“ Seit der Radikalisierung der Gruppierung im Jahr 2009 wurden zahllose Menschen verschleppt, darunter mehr als 500 Frauen und Mädchen. Tausende sind ermordet worden, darunter sowohl Muslime als auch Christen.
Boko Haram gebe zwar vor, im Namen der Religion zu handeln, sagt Abraham Sunday Odumu, Dozent für Citizenship Education & Government an der Federal Polytechnic in Kaura Namoda, Nordwest-Nigeria. „Aber alle, die Boko Harams eigene Version des Islam ablehnen, sind Feinde, selbst gemäßigte Muslime gelten als Ungläubige. Auch deren Eltern und andere Verwandte werden als Feinde betrachtet, die den Tod verdienen.“
Die nigerianischen Streitkräfte konnten bislang wenig gegen die Terrororganisation ausrichten, deren erklärtes Ziel es ist, einen nigerianischen Gottesstaat zu errichten. Die Stadt Baga liegt in einem der neun nordnigerianischen Bundesstaaten, in denen bereits das religiöse Gesetz der Scharia gilt; der Süden ist mehrheitlich christlich. Die Liste der Anschläge von Boko Haram, das mit „westliche Bildung ist Sünde“ übersetzt wird, ist lang. Voriges Jahr wurde mit rund 1500 Todesopfern ein trauriger Höhepunkt erreicht.
Die mit Al-Qaida affiliierte, radikal-islamische Sekte taucht, verglichen mit Terrororganisationen im Nahen und Mittleren Osten, eher sporadisch in den Nachrichten auf. Dabei steht sie ihren „Brüdern“ in puncto Grausamkeit in nichts nach. Boko Haram setzt Frauen und Kinder als Selbstmordattentäter ein, wie zum Beispiel bei den Sprengstoffattentaten von Maiduguri und Potiskum, wenige Tage nach dem Gemetzel im Nachbarstaat Borno.
Nach Charlie die Sintflut
Während die Solidarität mit den Opfern der Paris-Attentate nicht nur in den sozialen Netzwerken weite Kreise zog und sich dutzende Staatsoberhäupter auf der Pariser Großdemonstration am 11. Januar medienwirksam in Szene setzen, rangiert das Massaker in Baga im Politikressort der Zeitungen eher unter ferner liefen. Der Hashtag #IAmBaga ist nicht annähernd so oft anzutreffen wie #JeSuisCharlie, das tagelang Twitter-Trend war.
Erst etwa eine Woche später - im Internet-Zeitalter also eine halbe Ewigkeit – dann das langsame Erwachen. Zeitungen berichten von einem „Massaker schrecklichen Ausmaßes“. Auf den Pressemeldungen von Amnesty basierende Kurznachrichten streifen erstmals das Bewusstsein des tagespolitisch interessierten Bürgers. Zögerlich rollt so etwas wie eine kleine Welle der Solidarität an.
Immerhin startete Avaaz eine knappe Woche nach dem Massaker eine Petition, in der eine Sondersitzung des UN-Sicherheitsrates gefordert wird. Es ist ebenfalls ein Appell an die internationale Gemeinschaft, Druck auszuüben auf eine Regierung, die sich bislang verdächtig bedeckt hält. Ein Teilerfolg, immerhin: In einer öffentlichen Stellungnahme verurteilte der UN-Sicherheitsrat kürzlich die Verbrechen der Terrormiliz aufs Schärfste.
Baga - kaum mehr als eine Randnotiz
Die mediale Vernachlässigung von terroristischer Gewalt und bürgerkriegsähnlichen Zuständen auf afrikanischem Boden ist kein neues Phänomen. Gerade einmal knapp über 20 Jahre ist es her, dass die Welt fast tatenlos zusah, als die Tutsi in Ruanda niedergemetzelt wurden. An einer kollektiven Verdrängung eines Verbrechens, das in seiner Abscheulichkeit kaum vorstellbar ist, kann es daher nicht liegen, dass Baga kaum mehr als eine Randnotiz wert ist.
Für manchen liegen die Gründe klar auf der Hand. So tweetete @suraiasahar am 16. Januar: “Because you're African. And Muslim. #JeSuisBaga #BagaTogether“. Ein klarer Fall von Ethnozentrismus? Zumindest schien auch die Ebolafieber-Epidemie den Westen nur solange in Atem gehalten zu haben, wie es Erkrankungsfälle auf amerikanischem und europäischem Boden gab.