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Boko Haram: Europas Nabelschau

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Jaleh Ojan

Gesellschaft

Anfang des Jahres ereignete sich einer der blutigsten Terroranschläge dieses Jahrtausends. Es ist nicht etwa von Frankreich die Rede, sondern von Nordost-Nigeria. Verglichen mit Charlie Hebdo sind Nachrichten über das von Boko Haram verübte Massaker jedoch kaum mehr als Fußnoten. Zeit für einen Blick über das Mittelmeer.

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Von entspanntem Business as usual kann in europäischen Blättern in den Wochen nach den Anschlägen in Frankreich keine Rede sein. Nach den Massenkundgebungen in Paris liefern Razzien in der Islamistenszene Deutschlands und anderer Länder Europas den hiesigen Zeitungen ausreichend Material: Europa dreht sich um sich selbst. Dabei ist das Problem in Nigeria längst kein lokales mehr. Kaum kommentiert von den westlichen Medien, gelang es der Islamisten-Sekte Boko Haram, seinen Machtradius auf die angrenzenden Staaten Tschad und Kamerun auszudehnen - beide Länder sehen sich nun dazu gezwungen, militärisch zu intervenieren. 

Angela Merkel will zwar ausloten, inwieweit die EU afrikanische Einsatztruppen logistisch und finanziell unterstützen kann; sogar der Einsatz einer multinationalen Anti-Terror-Einheit ist derzeit im Gespräch. Die nigerianische Bevölkerung sieht sich indessen aber mehrheitlich mit dem Terrorproblem alleingelassen. „Die internationale Gemeinschaft ist nicht mit gebotener Eile gegen Boko Haram vorgegangen, wie sie es mit IS und anderen Terrorgruppierungen tat“, sagt Odumu. Seine Region ist nicht von den brutalen Anschlägen Boko Harams betroffen, “aber jedes Mal, wenn eine Region im Norden angegriffen wird, fühlen wir alle den Schmerz und die Bedrohung.“

Hinsehen, wo es wehtut

“Der Schutz der Bürger ist zwar Pflicht der Staatsregierung, aber der Terror von Boko Haram nimmt allem Anschein nach überwältigende Dimensionen an“, sagt Abraham Sunday Odumu, Dozent für Citizenship Education & Government an der Federal Polytechnic in Kaura Namoda, Nordwest-Nigeria. Die bisherigen Anstrengungen der nigerianischen Regierung seien deshalb nicht genug, meint er. „Mehr proaktive Maßnahmen müssen ergriffen werden.“ Fakt ist, dass sich Staatschef Goodluck Jonathan zwar beeilt hat, die Terroranschläge von Paris öffentlich zu verurteilen. Zu dem Massaker in seinem eigenen Land verlor er bislang jedoch kaum ein Wort. Sehr beschäftigt scheint er in der heißen Phase des Wahlkampfs, sehr bedacht darauf, den Wahlsieg bei den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen Mitte Februar durch indirektes Eingestehen seiner Ohnmacht gegenüber der Terrorsekte nicht aufs Spiel zu setzen. Da mutet es fast zynisch an, dass er die Niederschlagung Boko Harams neben der Bekämpfung von Korruption zu seinen wichtigsten Wahlversprechen gemacht hatte. 

Mit seiner Beschwichtigungs-Rhetorik sinkt Jonathan allerdings nicht nur im Ansehen von Exil-Nigerianern. Amnesty International erachtet „das Engagement der nigerianischen Regierung gegenüber Boko Haram als nicht ausreichend“, so Christian Hanussek, Nigeria-Koordinator der deutschen Sektion von AI. Damit drückt er aus, was auch viele Nigerianer empfinden. Ein nur schwacher Lichtblick: Jonathan hat sich vergangenen Herbst zumindest von dem inoffiziellen Wahlslogan #BringBackJonathan2015 distanziert, einer geschmacklosen Anspielung auf die globale Online-Kampagne #BringBackOurGirls. Deren Unterstützer drängen auf konkrete Maßnahmen zur Befreiung der im April 2014 entführten Mädchen aus Chibok. Die Wut, die dieser Slogan in der nigerianischen Bevölkerung entfacht hatte, spiegelt nicht zuletzt auch die Fassungslosigkeit über die Tatenlosigkeit der Regierung in Sachen Boko Haram wider.

Trotz allem, es wäre ein Fehler zu glauben, allein Nigerias islamischer Norden sei von gravierenden Menschenrechtsverletzungen betroffen. Das bevölkerungsreichste Land Afrikas rangiert mit seinen unaufgeklärten Morden an Journalisten auf Platz 12 des Impunity Index 2014 der Organisation Committee to protect Journalists. Erst vor einem Jahr setzte Präsident Jonathan eines der weltweit repressivsten Gesetze gegen gleichgeschlechtliche Partnerschaften durch. Von Polizeigewalt, menschenunwürdigen Zuständen in Gefängnissen und fehlendem staatlichen Schutz für Frauen und Kinder ganz zu schweigen. 

Christian Hanussek gibt zu bedenken, dass es auch gerade die von Sicherheitskräften begangenen Menschenrechtsverletzungen seien, die zum Scheitern des Kampfes gegen die Islamisten führen. Amnesty International fordert „vom nigerianischen Staat, dass er seine Bürger vor Boko Haram schützt, indem er ordentliche Ermittlungen führt und Täter vor Gericht stellt“, so Hanussek. „Stattdessen werden durch die Sicherheitskräfte wahllos Menschen verhaftet, gefoltert und ermordet. Die internationale Gemeinschaft muss Druck auf die nigerianische Regierung ausüben, Boko Haram nach rechtsstaatlichen Regeln  zu bekämpfen.“

Mitte Januar hatte Bundestagspräsident Norbert Lammert zu einer Schweigeminute für die Opfer der Pariser Anschläge aufgerufen, „als Zeichen unseres Respekts, unserer Anteilnahme und unserer Solidarität“. Es ist müßig, darüber zu spekulieren, ob dieser Respekt auch den nigerianischen Opfern zuteil geworden wäre, hätte das Massaker von Baga Anfang Januar die Nachrichten dominiert. 

Die Reaktion auf die Anschläge von Paris zeigen, dass sich unsere Medien nicht mundtot machen lassen. Solange Europa aber weiterhin Nabelschau betreibt und Massenmorde wie in Nigeria geflissentlich übersieht, macht es nur unzureichenden Gebrauch von seiner vielgerühmten Pressefreiheit. Vielleicht ist es an der Zeit, sich von den Amerikanern einen mittlerweile etwas überstrapazierten Slogan zu borgen und #NigerianLivesMatter auf die Straße zu bringen. Zumindest wäre das ein Anfang.

Lest hier den 1 Teil von Boko Haram: Massaker im Schatten von Charlie

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