boat people projekt: Bretter, die die Welt bedeuten
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Die Notlage von AsylbewerberInnen aus Syrien ist zur Zeit omnipräsent in europäischen Medien. Die Jugendgruppe des Göttinger Freien Theaters boat people projekt arbeitet mit jungen Geflüchteten unterschiedlicher Herkunft und bietet ihnen einen Raum, in dem sie ihre Geschichten auf künstlerische Weise verarbeiten. Ein Gespräch mit zwei jungen DarstellerInnen und ein Versuch, darüber zu schreiben.
Die Wahrheit ist, dass ich keine Ahnung habe, wie ich diesen Artikel schreiben soll.
Die Wahrheit ist, dass es zur Zeit 9755 AsylbewerberInnen aus Syrien in Deutschland gibt. Ausführlich habe ich nur mit zwei von ihnen gesprochen.
Die Wahrheit ist, dass das Wort 'Flüchtling' – oder auch Asylbewerber – weder Rahaf noch Kamal erfassen kann. Sie sind Menschen, die geflohen sind. Und jeder Mensch hat seine ganz eigene Geschichte.
Die Wahrheit ist: Ich habe Angst, ihnen nicht gerecht zu werden.
Die Wahrheit ist: Kamal Ali ist erst achtzehn Jahre alt. Er ist Kurde aus Syrien und lebt seit vierzehn Monaten in Deutschland. Wie viele junge Männer ist er alleine nach Deutschland geflüchtet. Seine Familie lebt noch in Syrien.
Die Wahrheit ist, dass die meisten UMFs – unbegleitete minderjährige Flüchtlinge – Jungen sind. Viele werden von ihren Familien hierher geschickt. Sie sollen Papiere erhalten und vielleicht sogar Geld verdienen, damit ihre Familien irgendwann hinterherkommen können. Die Wahrheit ist, dass Kamal selbst entschieden hat, nach Europa zu gehen. Er hatte für sein Abitur gelernt und wollte bald studieren. Die Wahrheit ist, dass ein syrischer Junge, sobald er volljährig ist, zum Militär gehen muss. Als Kurde müsste Kamal nicht nur für Baschar al-Assad kämpfen, sondern auch für die Kurden. Ich kapiere nicht, wie das funktionieren soll. Ich frage Kamal. Er zuckt nur mit den Schultern. Genau das ist das Problem. Die Wahrheit ist, dass Kamal jetzt auf die Hauptschule geht. Er ist in der neunten Klasse. In Syrien war er in der zwölften Klasse. Viele von seinen Mitschülern begreifen nicht, dass es in Syrien Krieg gibt. Die Wahrheit ist: Über viele Sachen redet Kamal nicht. „Sie bleiben hier,“ erzählt er mir und schlägt auf sein Herz. „Ich war auch einmal bei einer Psychologin, ich habe ihr nichts gesagt. Ich konnte nicht. Manche Sachen kann ich nicht sagen.“ Und dann wiederholt er die Sätze. „Ich war auch einmal bei einer Psychologin. Ich habe ihr nichts gesagt. Ich konnte nicht.“
Die Wahrheit ist, dass Rahaf Jalbout nicht selber entschieden hat, über das Mittelmeer nach Europa zu fliehen.
Die Wahrheit ist: Rahaf ist einundzwanzig. Sie ist Palästinenserin aus Syrien. Bis vor einem Jahr wohnte sie in Mokhayam Al-Yarmok, der großen palästinensischen Siedlung, einem ehemaligen Flüchtlings-Camp in Damaskus, das im Krieg belagert und zerstört wurde. Al-Yarmok war einmal der Inbegriff des friedlichen Zusammenlebens. Ban Ki-Moon hat Al-Yarmok neuerdings als den 'innersten Kreis der Hölle' beschrieben.
Die Wahrheit ist: Rahaf war die letzte aus ihrer Familie, die aus Syrien ausgewandert ist. Ihre Eltern und Schwester waren schon nach Ägypten geflohen. Rahaf studierte Geographie an der Universität in Damaskus.
Die Wahrheit ist, dass auch die Universität in Damaskus von Bomben getroffen wurde. Rahafs Eltern hatten Angst. „Meine Eltern haben mir gesagt, hör auf und komm. Sie haben mich gezwungen.“ Sie lacht, verlegen. „Aber wegen mir, verstehst du?“
Die Wahrheit ist, dass Rahaf – irgendwann – wieder nach Syrien will. „Klar. Alle meine Verwandten wohnen da. Alle meine Freunde. Ich wohnte da zwanzig Jahre meines Lebens.“ Das ist das einzige mal, dass Rahaf während unseres Gesprächs den Tränen nah ist.
Die Wahrheit ist, dass Rahaf niemals nach Europa gehen wollte. Sie hatte sich niemals vorgestellt, Syrien zu verlassen. Oder doch: Vielleicht, um irgendwann einmal nach Palästina zu ziehen.
Die Wahrheit ist, dass ich Rahafs und Kamals Erlebnisse niemals werde begreifen können. Kamals Reise über die Türkei, Griechenland, Mazedonien, Serbien, Bulgarien, die Slowakei und Tschechien bleibt mir fremd. Rahafs Stärke kann ich nur bewundern.