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Bildungsbarrieren einreißen!

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Berlin

In Deutschland leben fast 16 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund, also Menschen von denen mindestens ein Elternteil oder sie selbst nach Deutschland eingewandert sind.

Während die Bundesregierung in vielen Fällen eine Verbesserung der sozialen Lage von Menschen mit Migrationshintergrund verkündet, sind sie absolut gesehen häufig aber schlechter gestellt als Menschen ohne Migrationshintergrund – egal ob nach der Arbeitslosigkeit, dem Bildungsabschluss oder den politischen Beteiligungsmöglichkeiten gefragt wird. Gleichzeitig werden in Deutschland immer weniger Kinder geboren und die Wirtschaft klagt, aufgrund des Fachkräftemangels nicht mehr alle offenen Stellen mit qualifiziertem Personal besetzen zu können. Verschwendet Deutschland also ein enormes Potenzial? Bei einer Podiumsdiskussion im Rahmen des Café Babel-Projekts „Multikulti on the Ground“ nahmen zu dieser Frage am 24. Mai im Berliner taz Café Experten und Bürger Stellung, berichteten von Studien und eigenen Erfahrungen.

Multikulti Podium Was tun gegen Diskriminierung? Auf dem Podium (von links nach rechts): Integrationsbeauftragte Gün Tank, Café Babel-Redakteurin Christiane Lötsch, Kulturwissenschaftler Gernot Wolfram, Unternehmer Nihat Sorgec

Deniz Utlu Multikulti

Diskriminiert würden Menschen mit Migrationshintergrund nicht nur von Rechtsextremisten, erklärte Gün Tank, Integrationsbeauftragte des Bezirks Tempelhof-Schöneberg. Probleme gebe es oft auch im Alltag, beim Besuch einer Behörde, oder wenn Menschen trotz gleicher Bildungsabschlüsse keinen Job oder Praktikumsplatz finden, nur weil sie einen fremder klingenden Namen haben. Dabei sei zu beachten, dass die Diskriminierung nicht immer in bösartiger Absicht geschehe, ergänzte Esra Küçuk, Projektmanagerin der Jungen Islamkonferenz. So seien beispielsweise in der Schule Lehrer manchmal mit der Vielfalt in ihren Klassen überfordert. Etwa dann, wenn ein Lehrer in gutgemeinter Absicht beim Thema Islam im Religionsunterricht einen muslimischen Schüler auffordere, islamische Bräuche zu erklären, obwohl dieser unter Umständen gar nicht religiös ist. Hier werde pauschal davon ausgegangen, dass alle Schüler aus einem muslimischen Elternhaus auch religiös seien – während der einzelne Schüler in seiner Individualität nicht mehr gesehen wird.

Warnt vor Begriffskosmetik: Autor Deniz Utlu

Doch was tun gegen Diskriminierung? Der Autor Deniz Utlu warnte vor oberflächlicher Begriffskosmetik: Einfach die Wörter „Ausländer“ oder „Gastarbeiter“ durch das häufig – mangels Alternative auch hier – genutzte Begriffsungetüm „Menschen mit Migrationshintergrund“ zu ersetzen, bringe gar nichts. Denn es bestehe die Gefahr, dass damit auf eine politisch korrekte Weise doch nur die Begriffe „Türke“ oder „Araber“ umschrieben würden. Außerdem enthalte der Begriff keinerlei zeitliche Begrenzung mehr. Nach wie vielen Jahren oder Generationen wird ein Bürger mit Migrationshintergrund zu einem ohne? In eine ähnlich Richtung argumentierte der Kulturwissenschaftler Gernot Wolfram: Gerade bei der Diskussion um soziale Probleme sei Bildung der entscheidende Schlüsselbegriff – nicht der Migrationshintergrund.

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Scheinbar chancenlose Jugendliche – viele von ihnen mit Migrationshintergrund – durch mehr Bildung für den Arbeitsmarkt fit zu machen ist auch die Mission von Nihat Sorgec, dem Geschäftsführer des Bildungswerks in Kreuzberg (BWK). „Gerade bei mittelständischen Unternehmen gibt es oft Vorbehalte“, hat er beobachtet. Das BKW reagiert unter anderem mit einem speziellen Praktikumsangebot. Sechs Monate lang arbeiten junge Menschen in Unternehmen mit, während das Bildungswerk in engem Kontakt mit den Betrieben steht. Von dort gemeldete Bildungsdefizite werden gezielt bearbeitet. An erster Stelle steht oft die Sprachkompetenz. „Anders als manchmal gedacht sind viele Jugendliche nicht bilingual kompetent, sprechen also zum Beispiel deutsch und türkisch, sondern doppelt Halbsprachler, weil sie keine Sprache richtig beherrschen“, erklärte er. Der erste Schritt: Mit speziellem Unterricht die Kenntnisse der deutschen Sprache verbessern. Viele Jugendliche würden nach dem Intensiv-Praktikum einen Ausbildungsplatz finden.

kuva5_72dpi.jpg Auch innerhalb der Europäischen Union ist der freie Zugang zum Arbeitsmarkt nicht überall gesichert, berichten Zuhörer - etwa, wenn Ausbildungszeugnisse nicht anerkannt werden.

Während Bildungsbarrieren ein Problem besonders der unteren sozialen Schichten sind, leiden bisweilen auch Akademiker. Selbst innerhalb der Europäischen Union ist der freie Zutritt nicht überall gestattet. Eine Zuschauerin, die ursprünglich aus Italien kommt, berichtete, dass dort ihr deutscher Universitätsabschluss nicht anerkannt werde – einem halben Jahrhundert europäischer Einigung zum Trotz.

kuva2_72dpi.jpg Foto: Sandra Wickert (1,2) und Maria Halkilahti (3,4,5)