Berlinale: Langeweile in Lateinamerika
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von Sandra Wickert
Man könnte meinen, in Lateinamerika passiere nicht viel: das Leben plätschert so vor sich da hin, die Einwohner haben sich nichts zu sagen, schlagen ihre Zeit mit Zigaretten rauchen, gelangweilt sein und Musik hören rum. Diesen Eindruck kann man jedenfalls gewinnen, wenn man sich aus den argentinischen Berlinalebeiträgen genau die zwei Filme rauspickt, in denen die Entdeckung der Langsamkeit zelebriert wird. Während es in „Ocio“ (Berlinale Forum) von Juan Villegas und Alejandro Lingenti ein paar jugendliche Tagediebe sind, die sich in einem Vorort von Buenos Aires durch den Tag schweigen, ist es in „Un Mundo Misterioso“ von Rodrigo Moreno (Wettbewerb) der Mittdreißiger Boris, der durch eine Probe auf Trennung, die von seiner Freundin Ana ausgeht, plötzlich zu viel Zeit hat.
Un mundo misterioso
Moreno lässt seinen Filmhelden orientierungslos durch den Tag streifen, wobei ihm die Kamera langsam und stetig bei allem folgt, was er tut. Oder besser: nicht tut. Alle Unternehmungen, die Boris in Angriff nimmt, wirken halbherzig und unmotiviert. Ana zurückgewinnen? Bei zwei kurzen Treffen ihm Café fehlen ihm nicht nur die Argumente, sondern fast gänzlich die Worte. Die Freiheit genießen und sich mit Sex, Drugs and Rock’n’Roll vom Liebeskummer ablenken? Geht nicht, denn aus einer Partyknutscherei wird nicht mehr als eine flüchtige Begegnung, denn auch hier sind es Kommunikationsschwierigkeiten, die ein Vertiefen der Bekanntschaft verhindern. Selbst als Boris sich ein Auto verkauft, kommt nicht viel mehr Bewegung in die Handlung: der rumänische Gebrauchtwagen ist eine echte Schrottmühle und spiegelt den desolaten und hilflosen, aber durchaus liebenswürdigen Zustand seines Besitzers wieder. Quälende zwei Stunden begleiten wir Boris durch sein zielloses Herumirren als Neu-Single, wobei es einige kurze Momente gibt, in denen man mitfühlt und sogar mal lachen muss: in den Momenten, in denen man sich wiedererkennt: das Herumspielen am Handy aus purer Langeweile oder das sich-Fehl-am-Platze-fühlen bei Partyspielen. Leider legt sich die Statik und Sprachlosigkeit der Handlung bleischwer auf den Filmgenuss nieder: das Vergnügen wird erdrückt und nach zwei Stunden tapferen Ausharrens auf dem Kinositz wünscht man sich nur eins: etwas Action, bitte!
Ocio
Einen ähnlichen Ansatz verfolgt Ocio, auch dies ein Film mit geringem Gesprächsanteil. Es werden ein paar typische Tage im Leben von Andrés erzählt, der mit seinem Vater und Bruder in einem Vorort von Buenos Aires wohnt. Viel geredet wird hier auch nicht, allerdings spielen hier Musik und Bilder eine wesentliche Rolle. Der Film basiert auf einem Roman von Fabian Casas, und wenn man den nicht kennt, bleiben einige große Fragezeichen am Filmende stehen. Viele Szenen scheinen keinen Sinn zu machen und einige Aktionen der Beteiligten bleiben unklar, wie auch die beiden Monologe der Nebendarsteller, die einen Großteil des Gesprächanteils des Films ausmachen. Während man sich in Un Mundo Misterioso durch die Zeit des Schweigens quält, schaut man in Ocio den Jungs beim Abhängen eigentlich ganz gerne zu und freut sich, wenn immer mal wieder ein krachiges Gitarenriff die Stille unterbricht. Hier wird zumindest so etwas wie ein sehnsüchtiges, melancholisches Gefühl erzeugt, auch wenn Ocio keinen nachhaltigen Eindruck hinterlässt, einem Musikvideo gleich, dass man sich ganz gerne anschaut, aber auch schnell wieder vergisst.
Karen llora en un bus
Zum Glück gibt es noch Karen aus Karen llora en un bus (Forum) von Gabriel Rojas Verda aus Kolumbien. Die Protagonistin verschlägt es nach zehnjähriger Ehe und einer gesicherten, aber ereignislosen Existenz als Anwaltsehefrau in ein neues Leben, in dem sie zunächst keinen Job, kein Geld und keine Freunde hat. Ganz unten angekommen begleitet der Zuschauer Karen, wie sie sich von alten Gewohnheiten befreit und langsam zu einer neuen, mutigeren und glücklicheren Persönlichkeit findet. Die einst sittsame Gattin aus der Mittelklasse hätte sich wohl früher kaum vorstellen können, sich mit einer Friseuse anzufreunden, vor Hunger nicht schlafen zu können, in Kaschemmen abzuhängen und sogar Fremde um Geld anzuschnorren. Nach und nach wird aus der braven Karen eine selbstbestimmte, glücklichere Frau die sich plötzlich nicht mehr scheut, das zu tun, was sie will und sogar beherzt eine Kakerlake zertritt, vor der sie anfangs schreiend davongelaufen ist. Regisseur Verda erzählt in der anschließenden Q&A-Session von seiner besonderen Liebe zu den Frauen, und das merkt man dem Film in jedem Moment an. „Karen llora en un bus ist übrigens kein Frauenfilm, auch wenn das so scheinen mag. Es ist ein Film über die kleinen, aber stetigen Schritte in Richtung es selbstbestimmten und freien Lebens. Es passiert also doch noch was in Lateinamerika.