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Berlinale : Das Trauma Vergewaltigung – wenn unsichtbare Narben sichtbar werden

Published on

Berlin

von Sandra Wickert Schwere Kost mit “Lo Roim Alaich“ der israelischen Regisseurin Michal Aviad

Am Anfang ist es ein Zufall, der zwei Frauen eint, die unterschiedlicher nicht sein könnten, die aber ein gemeinsames Schicksal teilen: TV-Journalistin Nira (Evgenia Dodina) erkennt bei einem Dreh im militärischen Sperrgebiet in Israel Polit-Aktivistin Lily (Ronit Elkabetz) die Frau, die einst neben

ihr bei einer polizeilichen Gegenüberstellung ihren gemeinsamen Vergewaltiger identifizierte. Dreißig Jahre ist das nun her und beide Frauen scheinen das schreckliche Erlebnis in der Vergangenheit abgeheftet zu haben. Ausgehend von diesem Initialmoment zeigt „Lo Roim Alaich“ von Michail Aviad Stück für Stück auf, wie das Trauma Vergewaltigung nicht nur die Leben zweier Frauen, sondern auch die der sie umgebenden Personen für immer verändert hat.

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Nira will alles mit ihrem journalistischen Auge begreifen. Sie beginnt zu recherchieren, trägt Fakten zusammen, sammelt Aussagen anderer Opfer, sieht Gerichtsakten ein und liest alte Zeitungsberichte. Direkte Konfrontation, sozusagen Schocktherapie und Flucht nach vorn, um das ihr Angetane durch Versachlichung irgendwie fassbar zu machen. Erst nach und nach zeigt sich, dass die Tat, die doch so lange zurückliegt, immer noch ihr alltägliches Leben beeinflusst. Das geschieht in kleinen, subtilen Hinweisen: wenn Nira die Straßenseite wechselt, sobald sie auf einsamer Straße Schritte hinter sich hört, wenn sie erzählt, wie Sex für sie niemals ein normaler Akt sein wird und wie sie versucht, ihre kleine Tochter vor allen Unbillen dieses Lebens zu beschützen.

Während Nira sich Nacht für Nacht an ihre Tochter kuschelt, sucht die toughe Lily Halt in ihrem politischen Aktivismus. Sie scheint stark und mutig, legt sich furchtlos mit Soldaten an, um für ihre Sache einzustehen. Sie hat sich dafür entschieden, ihre Vergangenheit zu verdrängen, doch als Nira auf sie zukommt, bricht die Fassade ein. Ihr oberflächlich gut funktionierendes Leben mit Ikea-Küche, ihrem Job als Fitnesstrainerin und ihrem ansprechenden Äußeren ist längst nicht das, was es scheint. Die Ehe ist schon lange kaputt, mit den erwachsen werdenden Kindern kommt keine normale Kommunikation zustande und eigentlich ist immer noch das junge Mädchen, dem etwas unfassbar Schreckliches angetan wurde und das sich seitdem nicht mehr gefangen hat. Lilys Tochter merkt, dass ihre Mutter etwas mit sich herumträgt: „Manchmal bist du Superwoman und manchmal bist du diese kleine Frau“ – und plötzlich wird aus der starken Person eine unsichere Mutter, die mit Worten ringt, um ihrer Tochter das lange verschwiegene Geheimnis anzuvertrauen. „Spiel nicht das ewige Opfer,“ bricht es aus ihrem Ehemann heraus, als sie ihn anfleht, sie nicht zu verlassen. Dieser Satz, der grausam und kalt klingt, verdeutlicht, wie das lange zurück liegende Ereignis einen großen Kreis zieht um alle Menschen herum, die das Vergewaltigungsopfer umgeben.

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Regisseurin Michail Aviad hat, ausgehend von einem wahren Ereignis, einen Film zwischen Fiktion und Dokumentation über das Verbrechen Vergewaltigung und dessen Auswirkungen im Leben zweier Frauen und deren Familien gedreht. Die Taten des „höflichen Vergewaltigers,“ der seine Opfer zu Zuneigung zwingen wollte, das Verhör, sogar das Muttermal des Täters auf seinem Rücken entsprechen wahren Begebenheiten. Die Story darum, um Nira und Lily, ist fiktiv. Die Regisseurin, deren Motivation für dieses schwere Thema ein zutiefst persönliches ist, möchte mit ihrem Erstlingswerk die Hilflosigkeit, die dieses Trauma mit sich bringt, aufzeigen und die zahlreichen Nebenkriegsschauplätze, die sich nach einer Vergewaltigung auftun. Das sind zum einen die unprofessionelle und entwürdigenden Behandlungen und Befragungen durch Psychiater, Polizisten oder Richter, zum anderen der tägliche Kampf um die Rückkehr zur Normalität.

Der Film braucht eine Weile, um zu seiner vollen Wirkung zu gelangen. Selbst als weibliche Betrachterin wird das Grauen, das dem Thema zu Grunde liegt, nicht immer fassbar. Die nicht inszenierten Original-Tonbandaufnahmen der Verhöre der damaligen Vergewaltigungsopfer gehen erst so richtig unter die Haut, wenn man sie als solche identifiziert hat. Ein leichtes Unwohlsein begleitet den Zuschauer den gesamten Film hindurch, allerdings wird es nie so stark, dass es kaum auszuhalten ist, wie man es aus anderen Filmen mit ähnlichem Thema kennt. Ein guter, aber kein herausragender Film, nicht anklagend, sondern begreifbar machend, das ist Michail Aviad mit „Lo Roim Alaich“ gelungen. Etwas mehr von den Momentne, die einem den Atem stocken lassen, hätte der Film vielleicht noch gebraucht. Als sich Lilys One-night-stand-Bekanntschaft von hinten in der Dusche an sie nähert ist die Spannung, ob dadurch Pandoras Box geöffnet wird und sich Lilys stilles Trauma zu einer akuten Panikreaktion verwandelt, kaum auszuhalten. Lily lässt ihren Liebhaber gewähren. „I hatte Sex gestern Nacht,“ erzählt sie Nira anschließend, „es war großartig.“ „Invisible. Man sieht es ihr nicht an.“ Lässt man den übersetzten Filmtitel und die abschließende Statistik, dass eine von fünf Frauen in ihrem Leben mit Vergewaltigung oder versuchter Vergewaltigung konfrontiert wird, setzt die Betroffenheit dann doch ein – die Message ist angekommen.

Filmstills@Internationale Festspiele Berlin