Berlin-Neukölln: Wohnen und wohnen lassen
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Durch die Medien ist Neukölln bekannt für Gewalt und gescheiterte Integration. Doch seit einiger Zeit ist das Viertel auch ein junges Beispiel der Gentrifizierung Berlins. Seit einigen Monaten wohne ich in der Weichselstraße in Berlin-Neukölln. Statistisch gesehen also zwischen 315.000 Neuköllnern. 41 Prozent davon sind Migrantinnen und Migranten, mehr als jeder Fünfte ist arbeitslos.
Meine Straße wurde von einem Stadtmagazin kürzlich zu einem der hipsten Orte Berlins erklärt. Aber was verbinden die BewohnerInnen mit diesem Ort? Wie hat sich die Straße verändert? Ich mische mich unter meine neuen Nachbarn.
Eugen ist überrascht, als ich ihn auf die Weichselstraße anspreche. Es ist 11 Uhr morgens. Der weißhaarige Mann mit wettergegerbtem Gesicht und strähnigen Haaren ist der erste, mit dem ich spreche. Er sitzt vor seiner Tankstelle - wie er den Kiosk in der Weichselstraße 62 nennt. Eine Dose Bier kostet hier nur 80 Cent. Seitdem die typischen Berliner Eckkneipen durch Spielotheken und schicke Cafés ersetzt werden, ist der Kiosk eine gute Ausweichmöglichkeit, erklärt mir Eugen.
Seit 30 Jahren ist der Österreicher in Neukölln. Dass ich jetzt auch hier wohne, belächelt er. Aber nach zehn Minuten bietet er mir einen Platz auf der Holzbank neben sich an und einen Zug aus seiner Schnapsflasche, da ich ja jetzt auch Berlinerin bin. Nach dem Kunststudium hat er alles Mögliche gemacht. Er zeichnet noch. Wenn das Material knapp ist, auch mit Zigarettenasche und Spucke. Eugen verbrachte einige Zeit in einem Kloster in Katmandu, in einer Höhle in Nordspanien, aber er ist immer wieder zurückgekommen nach Neukölln. Hier lässt man ihn in Ruhe. Eugen beginnt zu philosophieren: „Das wichtigste im Leben ist die Freiheit und die habe ich hier.“
Berliner Freiheit
Helge wohnt im gleichen Haus wie ich. Unsere Küchen liegen genau übereinander. An einem Sonntagmorgen vor 26 Jahren betrat er die Wohnung. Und bis heute wohnt der Architekt in der Weichselstraße 66. Der 70-Jährige wirkt erstaunlich jugendlich, wie auch seine Wohnung. Als er 1986 einzog, war am Ende der Weichselstraße die Mauer. Am oberen Ende begann der Kontrollstreifen. Die Straße wurde eher gemieden. Es war ruhig. Aber die besondere Atmosphäre hat sich seitdem nicht geändert: „Aus nichts etwas machen zu können, das war und ist anziehend. Alles ging sehr einfach, aber es blieb auch einfach.“ Es gibt immer noch viele kleine Ateliers und Galerien, aber keine hält sich länger.
Ich brauche zehn Minuten für die 850 Meter Weichselstraße. Verzierter Altbau wechselt sich mit 50er-Jahre Bauten ab. Graffiti-Sprayer versuchen sich an den Hauswänden. Die Sonne scheint durch die Baumallee. Es ist lebendig. Das macht den Charme der Straße aus. Ich zähle knapp 20 Bars, Cafés und Restaurants. Ein Bio-Supermarkt gegenüber dem Discounter. Die Bio-Eisdiele und der Kiosk mit seinem Stammpublikum liegen nur hundert Meter voneinander entfernt.
Das letzte Haus am oberen Ende der Straße ist Nummer 34. Annette hat dort bis 2005 gewohnt. „Noch vor sieben Jahren gab es hier keine einzige Bar, nur türkische Bäcker und Elektro-Geschäfte. Auf dem Spielplatz gegenüber lagen Spritzen“, erzählt mir die Journalistin. Das Erdgeschoss ihres Hauses war, so wie viele andere, mit Brettern verbarrikadiert. 2006 kamen die Bretter weg. Das Café Rudimarie machte auf. Heute holen sich dort top gestylte Eltern einen coffee to go für den Spielplatz nebenan.
Hipster und coffee to go
Berlin: mein Nachbar, der Hipster
Bei Rudimarie treffe ich Thomas. Die Preise im Café erinnern ihn an Friedrichshain, die teuren Mieten und die Hipster, vor denen er geflohen ist. „Früher war es hier durchmischter. Jetzt kann sich hier nicht mehr jeder eine Wohnung leisten.“ In Nummer 37 und 38 gibt es 40 Mietparteien. In 30 dieser Wohnungen haben in den letzten zwei Jahren die Mieter gewechselt. Kaum einer ging freiwillig. Grund waren die steigenden Mieten nach Modernisierungsarbeiten. Thomas’ 80 m2-Wohnung mit Ofenheizung kostet 380 Euro. Nach der Sanierung soll sie 750 Euro kosten. „Die Hausverwaltung legt die Kosten auf die Bewohner um, und die Mieten steigen. Wenn nach zehn Jahren alles abbezahlt ist, bleiben die Mieten hoch. Sozial verträglich handelt hier niemand!“, erklärt Thomas. Er war einer der wenigen im Haus, der sich rechtlich gegen die Mieterhöhung gewehrt hat. Das erste Verfahren hat er verloren, aber er klagt weiter. Er würde gerne hier bleiben. Der Spielplatz für seinen Sohn liegt gegenüber, der Kanal ist nur einige Meter entfernt. Ändert sich nichts, wird er wegziehen.
Nicht weit entfernt gibt es ein Café, in dem Thomas noch nie war. Es hat vor zweieinhalb Jahren aufgemacht - große Fenster, alte Möbel. Während der Renovierung haben oft neugierige Anwohner hereingeschaut. Trotzdem erzählt mir der Café-Besitzer von skeptischen Gesichtern, wenn er den Leuten im Kiosk nebenan vorschlägt, vorbeizukommen. Die Preise und das junge, modebewusste Publikum laden nicht gerade dazu ein, dass die Ur-Neuköllner hierher kommen. Die Besitzer wollen lieber nicht genannt werden. Schade eigentlich. „Wir wollen eine Atmosphäre schaffen, in der man wirklich reden kann. Wenn hier 20 Leute tanzen wollen, ist das nicht möglich“, erklären mir die Besitzer. Also verzichtet man auf die feiernden Touristen und setzt auf Ruhe und Platz.
Die feiernden Menschen sind der Grund, warum Ferhat eine Straßenecke weiter baut. Er hat eine Vision: „Dieser Kiez wird in den nächsten drei Jahren der beliebteste von ganz Berlin.“ In der Weichselstraße 54 will der 32-Jährige einen Kiosk mit Feinkostabteilung eröffnen. 3000 Euro bezahlt er für die knapp 300 m2. Stolz zeigt er mir jeden Raum des verwinkelten Rohbaus. Er hat alte Tapeten abgerissen, Backsteine freigelegt, Dielen abgeschliffen, rund 70.000 Euro investiert. Seine Hoffnungen sind groß. Ein Nachbar hat ihm erzählt, die Weichselstraße sei früher einmal so bekannt und beliebt gewesen, wie heute der Kurfürstendamm, mit vielen Geschäften und Kneipen. Eine dieser Kneipen renoviert er jetzt.
Auch eine Gruppe junger GrafikdesignerInnen und IllustratorInnen setzt auf die Zukunft der Weichselstraße. Sie haben in Hausnummer 65 gerade den Salon Renate gegründet. Eva ist Grafikdesignerin aus Portugal. In Berlin hat sie ein Praktikum nach dem anderen gemacht, bis sie sich entschieden hat, selbstständig zu arbeiten. Das sich jeden Tag wandelnde Neukölln empfindet sie als Inspiration. In diesem Büro könnten Flyer für die nächste Szene-Bar oder die nächste Protestaktion von Mietern entworfen werden.
Trotz aller Probleme schätzen die Menschen in der Weichselstraße die Mischung aus unterschiedlichsten Lebensentwürfen. Aber wie viel Veränderung hält ein Ort aus, bis er das verliert, was ihn ausmacht?
Dieser Artikel ist Teil des Reportageprojekts Orient Express Reporter Tripled, unterstützt vom deutsch-französischen Jugendwerk DFJW.
Illustrationen: Teaserbild (cc)kbirkenbach/flickr; Im Text: Helge & Ferhat ©F. Hessberger, alle anderen Fotos ©Luka Knezevic-Strika für Orient Express Reporter Tripled von cafebabel.com