Berlin, Du bist so wunderbar...oder: Warum ich in Berlin bleibe
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Viele tolle Menschen und sehr wohl Gemeinsinn – daran kann auch das Flughafen-Desaster nichts ändern. Warum ich nach 15 Jahren immer noch nicht genug von Berlin habe. Von Sandra Wickert.
Tyll Schönemann, ehemaliger stellvertretender Chefredakteur des Stern, flieht aus Berlin und zieht eine bittere Bilanz. Ich kann das nicht so ganz nachvollziehen – leben wir in der gleichen Stadt?
Lieber Herr Schönemann, Sie sind genervt. Von den armen U-Bahn-Schnorrern, der Berliner Schnauze, der angeblichen Gleichgültigkeit der Berliner und den vielen Verrückten. Dabei haben Sie ein paar Kleinigkeiten am Rande übersehen. Ich zähle Sie Ihnen mal auf, denn sicherlich haben Sie sie nur vergessen. Berlin ist tolerant. Wo sonst kann ich mit meiner typischen, unaufgeregten Berlin-Garderobe morgens zur Arbeit in mein hippes Internet-StartUp, am Frühabend zum Nussknacker in die Staatsoper und kurz darauf ins Kater Holzig zum Feiern, ohne dass ich irgendwie over- oder underdressed wirken würde? Berlin ist spannend. Wo sonst kann es einem passieren, dass man beim Feierabendbier plötzlich einen wild knutschenden Quentin Tarantino antrifft wie in der Neuköllner Ankerklause oder man von Daniel Brühl nach Feuer gefragt wird? Wo sonst läuft man bei der morgendlichen Joggingrunde plötzlich in einen spontan organisierten Open-Air-Rave? Innerhalb Deutschlands ist Berlin sowieso immer die erste Stadt, in der was passiert. Während man sich in Hannover oder Karlsruhe gerade noch an den Tapioca-Kügelchen verschluckt, ist der Bubble-Tea-Shop in Berlin bereits zum Obst-Döner umgebaut. Burger-Burrito-Macarons-Trend: wer hat’s erfunden (na gut, zumindest erfolgreich gehypt?) Die Berliner natürlich.
Berlin ist entspannend. In der grünsten Stadt Europas gibt’s nichts Schöneres, als einen lauen Sommerabend im Park oder an der Spree zu verbringen. Im Winter geht man in die Sauna auf dem Badeschiff oder ins Open Air Kino. Und das ist kein großes Ereignis. Das macht man einfach so. Berlin ist hilfsbereit. Ich weiß nicht, welche Erfahrungen Sie, lieber Herr Schönemann, machen musste, die Sie zu der Aussage „in keiner Stadt gibt es weniger Gemeinschaftsgefühl“ verleitet haben. Ich bin mal in einer Münchner U-Bahn ohnmächtig geworden. Interessiert hat das keinen. In Berlin hab ich mich schon mehrfach mit dem Fahrrad auf die Fresse gelegt. Jedes Mal hat mindestens einer angehalten und sich besorgt nach meinem Wohlbefinden erkundigt. Von der Mama mit Kindersitz über den Punk bis hin zum türkischen Taxifahrer – alle haben mich erst wieder weiterfahren lassen als ich glaubhaft versichern konnte, dass mir nichts passiert ist. Berlin kann was. Sie beklagen, „dass man hier mit dicker Hose Projekte anschiebt und dann mit der Sammelbüchse durch die Republik zieht“. Berlin hat sich in den letzten Jahren zum deutschen Silicon Valley entwickelt, wo die StartUp-Szene Superbrains und Kreative aus der ganzen Welt anzieht. Ashton Kutcher investiert nicht umsonst immer wieder jede Menge seiner Dollars in aufstrebende Berliner Internetfirmen.
Berlin ist cool. Hier hat David Bowie erst mit Iggy Pop und dann mit Bianca Jagger rumgemacht und danach wahrscheinlich mit beiden gleichzeitig, hier gibt’s Barkeeper, die Banane heißen und Pete Doherty nicht erkennen und Journalisten, die eine Satirepartei gründen.
Berlin hat von allem etwas. Barcelona hat Messi und das Meer, wir haben die Alte Försterei und den Mauerpark. London hat Herzogin Kate und die Tower Bridge, wir haben Angela Merkel und die Modersohnbrücke. Dem Pariser Croissant und dem Eifelturm haben wir die Currywurst und den Fernsehturm entgegenzusetzen. An Istanbul kommen wir nicht ganz ran, aber wahrscheinlich gibt’s nirgendwo in Deutschland außer am Kreuzberger Kotti das Original Gaziantep-Baklava zu kaufen.
„Und nur weil in Berlin Leben ist, ist Berlin noch lange nicht lebenswert“. ¬Da haben Sie aber etwas falsch verstanden, Herr Schönemann. Lebenswert ist, dass ich, auch unter der Woche, solange ausgehen kann, wie ich möchte, und zwar ohne Sperrstunde. Lebenswert ist, dass ich mitten in Kreuzberg ein Kanu ausleihen und damit bis an den Müggelsee paddeln kann. Lebenswert ist, dass ich innerhalb einer Laufdistanz von zehn Minuten zwischen einem argentinischen, asiatischen, türkischen, schwäbischen, äthiopischen, italienischen oder griechischem Mittagsimbiss wählen kann. Lebenswert ist, dass man auch noch jenseits der 30 in einer WG wohnen kann und keiner das irgendwie komisch findet. Lebenswert ist, dass ich hier alles tun kann, von dem meine Freunde in anderen Städten nur träumen können: Deutschlands einziger Kurs im Rollerdance? – In Berlin. Deutschlands einziges Filmfestival mit internationalem Flair? – In Berlin. Dinner-Clubs, Abrissparties, Raucherkneipen, Fashionweek, Chaos Computer Club, popkomm, Freiluftkaraoke, Schwarzlicht-Minigolf, verfallene Freizeitparks mit Dinosauriern: Berlin, Berlin, Berlin.
In einer Sache, haben Sie, lieber Herr Schönemann, natürlich recht: „Berlin ist Leinwand für allerlei Fantasien.“ Das ist es. Und dass diese Fantasien manchmal Wirklichkeit werden, dass kann einem wirklich nur hier, in dieser sonderbar-wunderbaren, sich immer verändernden Stadt passieren. Ihnen nun leider nicht mehr. Machen Sie’s gut in Hamburg, München oder Bayreuth. Und wenn Sie ihren Abgang dann doch mal bereuen sollten, dann zögern Sie nicht, zurück zu kommen. Sie werden sehen: Berlin wird Sie mit offenen Armen wieder aufnehmen. Denn so sind wir.