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Beppe Grillo: "Italien ist heute genauso wenig ein Land wie vor 150 Jahren“

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Babelito

Politik

Giuseppe Piero Grillo, 62 Jahre, ist eine nationale Berühmtheit, Blogger und Comedian. Der verheiratete, sechsfache Vater ist wahrscheinlich der letzte aller 60 Millionen Italiener, der Italiens 150. Geburtstag 2011 feiern wird. Er wurde Mitte der 1980er-Jahre aus dem nationalen Fernsehen verbannt, nachdem er bei den machtvollen Medien-Multikonzernen Italiens in Ungnade gefallen war.

Heute bloggt er und tritt mit seinen Comedy-Shows live im ganzen Land auf. Er sprach exklusiv mit cafebabel.com.

"Das Bloggen (Beppegrillo.it ging 2005 online und wird täglich von tausenden Italienern aufgerufen) erlaubt es mir Ideen zu verbreiten, über die die traditionellen Medien nicht berichten wollen, wie zum Beispiel die Tatsache, dass in unserem Parlament nicht weniger als 25 verurteilte Verbrecher sitzen. Die Infrastruktur des Internets hat mir geholfen, meine persönliche Medien-Plattform aufzubauen, unabhängig von den Massenmedien. Vorne durch die Tür raus, hinten durch das Fenster wieder rein, so kann man mein Verhältnis zu den italienischen Medien beschreiben.

Ehrlichkeit ist in Italien ein kleines Wunder.

Ich habe keine Einsätze und kein Prestige, die ich verteidigen muss. Viele andere Italiener müssen das schon, vor allem, wenn sie für einflussreich gehalten werden. Sie müssen sich ständig den Rücken freihalten. Ich dagegen kann ganz einfach ehrlich meiner Neugier nachgehen, darüber nachdenken, was ich sehe und Menschen davon erzählen. Aus italienischer Sicht ist das eine revolutionäre Herangehensweise an die Realität. In Europa ist Italien eines der wenigen Länder, in denen es ausreicht, beständig ehrlich zu sein, um berühmt zu werden. Ehrlichkeit ist in Italien ein kleines Wunder.

Am Anfang meiner Berufslaufbahn hatte ich wenig mit Politik zu tun. Ich organisierte kleine Gigs, spielte dort Gitarre, sang Lieder und erzählte Witze. Ich brach mein VWL-Studium an der Uni ab, um mich dem Reisen und meinen Auftritten zu widmen. Langsam entwickelte ich mich zu einem ausgewachsenen Comedian, danach wurde ich TV-Moderator, wie ein italienischer Jacques Brel-Verschnitt. An der Wirtschaft bekam ich erst in den 1980er-Jahren wieder Interesse. Ich machte bei der Kampagne für eine bekannte Joghurt-Marke mit, und begann mich zu fragen: Wie genau ist die Milch eigentlich zu einem trinkfertigen Produkt geworden? Ich verfolgte die verschiedenen logistischen Phasen zwischen der Kuh und dem Kühlschrank in meiner Küche zurück, und ich begriff, dass zwischen beiden eine Reise von 7000 km lag. Ich war schockiert über die scheinbar unverzeihbare Unwirtschaftlichkeit, bis ich herausfand, dass fast jeder einzelne Teil unseres täglichen Lebens aus solch einer nutzlosen Wertverschwendung besteht. Kolumbus, ein Genuese, war schon im 15. Jahrhundert schlauer und brachte Tomatensamen mit nach Hause - anstatt richtiger Tomaten, wie es heute passieren würde. Besitz scheint heute über Chancen zu triumphieren: die Welt steht auf dem Kopf.

Wir sind wie Karl der Kojote!

Es gibt nichts zu feiern. Italien ist eine zufällige Ansammlung geographischer Regionen. Es ist heute genauso wenig ein Land wie vor 150 Jahren. Es ist eingeschlafen. Als ob das gesamte Land auf einem schlechten Trip wäre, verbringen die meisten Italiener ihre Zeit damit, sich vor Feinden zu fürchten, die niemals auftauchen. In der Zwischenzeit vergessen sie über die Probleme nachzudenken, vor denen sie heute stehen. Wir sind bekannt für unsere Leidenschaft und unsere gefühlvolle Art, aber wir verbrauchen unsere Energie für die falschen Schlachten. Wir können unsere Aufmerksamkeit gerade noch fünf Minuten halten, viel zu wenig, um an strukturellen Verbesserungen zu arbeiten. Unsere Bevölkerung ist zu alt, und als ob das noch nicht genug wäre: wir sind pleite. Wir sind wie Karl der Kojote aus dem Cartoon, der einfach in Schluchten herein rennt. Er läuft weiter und fällt erst, als er hinunter schaut und bemerkt, dass er in der Luft hängt. Wir sind Karl der Kojote, und wir weigern uns, hinunter zu schauen.

Das politische System ist so unglaublich kompliziert gemacht worden, dass niemand auch nur den Schimmer einer Ahnung davon haben kann, was vor sich geht. Es wird so belassen, denn je komplizierter es wird, desto mehr Geld springt für die Beteiligten dabei heraus. Oder wird verschwendet - aus Sicht der Bürger. In vielerlei Hinsicht sind die EU und Italien in einer ähnlichen Lage. Der italienische Nationalstaat überlebt, weil sein politisches System so kompliziert ist, dass die Leute aufgeben, sich dafür zu interessieren. Die EU beruht auf genau dem gleichen Prinzip: einst von visionären Intellektuellen erdacht, hat sich die Handlung der Geschichte Italiens und Europas auf ein System kurzfristiger finanzieller Gewinne für eine kleine Gruppe von Menschen reduziert.

Die politische Arena Italiens ist ein bodenloses Fass miteinander konkurrierender Interessen. Gemeinderatsvorsitzende sitzen in Aufsichtsräten von Banken, besitzen selbst einige Firmen, und wenn sie wirklich wichtige Italiener sind, gehören ihnen auch ein oder zwei TV-Sender und viel Grundbesitz. Die Folge davon: die ganze italienische Gesellschaft ist ineinander verschlungen. Sogar die Mafia ist durch das Eindringen von Regierungsmitgliedern verdorben worden, ganz genauso wie umgekehrt: die Mafia zersetzt die Behörden.

Politiker benutzen Worte, um die Welt allmählich in einen Goldesel zu verwandeln, der ihren persönlichen Interessen dient, wie zum Beispiel beim Trinkwasser-Problem. Die Politiker verkünden stolz: "Wir werden die Wasserversorgung nicht privatisieren. Wir versuchen bloß, die besten und geeignetsten Geschäftspartner für den Teil der Verteilung innerhalb der Versorgungskette auszuwählen." Aber das ist alles Schwachsinn. Sie überdecken bloß ihre zweifelhaften Praktiken mit beruhigenden Worten. Wenn wir nichts dagegen tun, wird die Wasserversorgung in Italien zu einem Geschäft werden, basta!

Trotz der schlechten Verfassung, in der sich Italien befindet, ist unsere Geschichte voller bemerkenswerter Meilensteine. Banken in ihrer aktuellen Form wurden in Genua erfunden, genauso wie Versicherungen, die Logistik, die Schifffahrt und der Faschismus. Die drei größten Mafia-Organisationen der Welt sind italienisch. Wir hatten Autos vor den Amerikanern, Elektro-Autos vor den Japanern. Italienische Ideen verbreiten sich wie Viren: die guten ebenso wie die schlechten. Ob ich persönlich stolz darauf bin, Italiener zu sein, hängt von der Sichtweise ab. Im Moment habe ich kein Verlangen danach, irgendwo anders als in Italien zu leben. Die Leute kennen mich. Sie umarmen mich, klopfen mir auf die Schulter, sprechen mit mir. Meine Leserschaft schützt mich vor Leuten, die andere politische oder wirtschaftliche Vorstellungen haben als ich. Ich muss fast nie Rechnungen bezahlen. Taxifahrer nehmen mich umsonst mit, Restaurantbesitzer und die meisten Hotelmanager laden mich ein. In Italien betrachten die Leute Berühmtheiten als ihre persönlichen Freunde. Wieso sollte ich eine solche Gastfreundschaft nicht großzügig annehmen? Ich würde es nicht tun, wenn ich Politiker wäre, aber ich bin keiner. Ich schulde niemandem irgendetwas. Ich habe keine Rechnungen zu begleichen. Jeder anständige Italiener erhält heutzutage von Zeit zu Zeit eine Kugel per Post. Ich habe mir selbst eine geschickt, weil das niemand sonst für mich getan hat ...

Auf eine Sache bin ich ganz sicherlich stolz, nämlich eine wachsende Gegenbewegung junger Italiener zu sehen, die das lächerlich komplizierte politische System Italiens satt haben. Die erkennen, dass wir auf ein Desaster zusteuern, wenn die Dinge so bleiben, wie sie sind. Ich bin stolz auf die Gründung der Beppe-Grillo-Bewegung Movimento 5 stelle ['5-Sterne-Bewegung'; A.d.R.], ein ungeheuer beliebtes Netzwerk junger, ambitionierter Italiener, das aus im ganzen Land verstreuten örtlichen Zweigstellen besteht. Auch wenn sie sich regelmäßig treffen und aus ihnen neue politische Parteien hervorgehen, ist die Bewegung selbst keine politische Partei. Ich bin nicht ihr politischer Führer. Ich nähre bloß ihren Ehrgeiz, diene als Lautsprecher in die Öffentlichkeit und biete ihnen eine Bühne, damit ihre Stimme gehört wird. Ich inspiriere sie, Italien für die kommenden 150 Jahre zu einem besseren Land zu machen.

Vox Pop: Drei Italiener über Beppe Grillo

Bruno van den Elshout"Grillo war einer der ersten, der darüber geschrieben hat, wo und warum unser politisches System keinen Sinn ergibt. Er veröffentlicht Blog-Artikel mit den Namen von verurteilten Parlamentariern - nicht verdächtigten, sondern verurteilten -, die es trotzdem schaffen, ihren Sitz im Parlament zu behalten, weil sie jemanden decken, der jemand anderen deckt usw. Vor ein paar Jahren hat er viermal so viele Stimmen wie nötig für ein Referendum namens "Politik entrümpeln" gesammelt, das zum Ziel hatte, Verbrecher aus dem Parlament zu werfen, politische Karrieren auf zwei Amtszeiten zu beschränken, und die Direktwahl von Kandidaten einzuführen. Das Referendum hat niemals stattgefunden. Aber ganz egal, wie groß seine politische Macht ist oder werden wird, sein Engagement dafür, uns die Wahrheit über unser Land zu erzählen und Skandale vorherzusagen und aufzudecken, ist dringend nötig. Wir können nicht darauf hoffen, dass irgendeiner der heutigen politischen Führer diese Arbeit für ihn übernimmt, so traurig das auch klingen mag."

(Alessandro, 34 Jahre)

Bruno van den Elshout"Das politische System in diesem Land ist verdorben, und eine ganze Generation leidet. Italiener zwischen 25 und 40 Jahren werden "Bamboccioni" genannt - Riesenbabys - weil viele von uns keinen Job haben und wir, wenn uns unsere Eltern nicht helfen würden, ohne zu Hause da stünden. Ich habe auf Lehramt studiert, aber seit ich meinen Abschluss habe, sind die Gesetze geändert worden. Daher muss ich, wenn ich auch nur eine Lehrerlaubnis erhalten will, nochmal zwei Jahre zurück an die Uni. Heutzutage müssen Fremdsprachenlehrer nicht einmal Klausuren in den Sprachen schreiben, die sie unterrichten. Das Bildungssystem bereitet uns auf eine weitere verlorene Generation nach uns vor, und all das, weil persönliche Interessen die Politiker davon abhalten, Entscheidungen im Sinne des Volkes zu treffen. Ich werde nicht für Beppe Grillos Bewegung stimmen, weil ich seine Ideen zu extrem finde. Aber er hat sicherlich Recht damit zu fordern, dass sich unser Land ändern sollte."

(Simona, 37 Jahre)

by Bruno van den Elshout"Das Internet ist der einzige Zugang zu Informationen darüber, was tatsächlich in Italien vor sich geht. Junge Leute lesen keine Zeitungen, weil sie wissen, dass sie ihnen nicht vertrauen können. Viele von ihnen trauen dem, was sie im Fernsehen hören, und wenn man es anstellt, dann erzählt es einem, dass Berlusconi großartige Dinge tut. Aber rate mal, wer der Eigentümer der TV-Sender ist? Berlusconi! Wenige Italiener sind bereit über das hinaus zu denken, was sie hören und sehen. Das gleiche gilt für Beppe Grillo. Seine Ideen sind populär, aber viele von denen, die sie annehmen, sind unfähig, für sich selbst zu denken. Sie kopieren ihn einfach. Das macht die ganze Bewegung ein bisschen unheimlich. Wie lange wird es dauern, bevor Machtstrukturen über gute Ideen die Oberhand gewinnen? Berlusconi ist nicht Italiens größtes Problem. Wir selbst sind das Problem. Wir sind ein Land ewiger Jugendlicher. Wir wollen schöne Dinge besitzen, je mehr, desto besser. Wir vergleichen uns mit den Anderen. Wir wollen mehr als die Anderen. Und wir brauchen einen Boss, der uns bremst, fast wie ein Elternteil, wie jemand, mit dem wir andauernd streiten. Wir brauchen Bosse. Wir erschaffen Bosse, damit wir Bosse haben. Und es ist schwer, ihnen vorzuwerfen, dass sie ebenfalls schöne Dinge besitzen wollen, auch wenn es auf Kosten anderer Menschen geht."

(Isaia, 29 Jahre)

Alle Fotos: © PHOTOLOGIX.NL/ Bruno van den Elshout

Translated from Beppe Grillo: ‘Italy is as little a country now as it was 150 years ago’