Befreiende Tabubrüche
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Die Bürgerschrecks der „Movida“ öffneten Ende der Siebziger Spanien dem Rest der Welt. Heute sind verrückte Jugendbewegungen aus der Mode gekommen.
Ein junger Mann sitzt auf seinem Motorrad und äugt in die Kamera hinter seinem Rücken. Der Fahrtwind wirbelt sein wuschiges Haar durcheinander. Vor ihm liegen die Straßen Madrids. „Selbstporträt auf dem Motorrad“ heißt das Bild, das der Fotograf Alberto Garcia-Alix 1978 aufgenommen hat. Man spürt den Spott im Blick des Fahrers, den er zurück, in die Vergangenheit, wirft. Das Bild ist ein Symbol der „Movida“.
Wollüstige Anarchie
1975 stirbt Spaniens Diktator Francisco Franco und das Land streift in den folgenden Jahren mühsam die bleiernen Ketten des Unrechtsstaates ab. Diese Zeit ist die Geburtsstunde der Movida, einer buntgescheckten Künstlertruppe, die das postfrankistische Spanien in den Achtzigern gründlich durcheinander wirbeln wird. Der Regisseur Pedro Almodóvar ist darunter, die Sängerin Alaska, der Fotograf Pablo Perez-Minguez.
30 Jahre später blickte Madrid wehmütig zurück. Die zahlreichen Ausstellungen, Konzerte und Filme, die von November 2006 bis zum Februar dieses Jahres in der spanischen Hauptstadt gezeigt wurden, ließen die bizarren Kunstwerke der Movida noch einmal lebendig werden. Die Jahre, in denen die Bürgerschrecks in Spanien ihr Unwesen trieben, haben bis heute nichts von ihrer Faszination verloren: Die wollüstige Anarchie, der befreiende Tabubruch ist in den Fotos, den Filmen und der Musik der Movida-Bewegung allgegenwärtig.
Rebellion und Mid-Life-Crisis
Wahrscheinlich stehen wir deshalb so andächtig vor den Werken dieser Jahre, weil wir spüren, dass wir dieses Frühlingsgefühl der nahenden Freiheit längst verloren haben. Die Hoffnung auf den Aufbruch ist Westeuropa verloren gegangen und mit ihr die mitreißenden, einheitsstiftenden Jugendbewegungen der Sechziger und Siebziger Jahre. Damals, in der Zeit von Swinging London, 68 und der Movida, war Europa ein rebellierender Jugendlicher. Heute ist es ein Erwachsener in der Mid-Life-Crisis. Was bleibt, sind kulturindustriell verschacherte Retrobands, Vintage-Klamotten und schicke Designerstühle im knalligen Siebziger-Orange.
Die Jugend will nicht mehr Teil einer Jugendbewegung sein. Heute sind alle Stile und Haltungen in einem grellbunten, postmodernen Brei vermischt. Der Jugendliche am Beginn des 21. Jahrhunderts bastelt sich aus der Schatztruhe untergegangener Jugendbewegungen seine Identität zusammen. Von „Bewegungen“ irgendwelcher Art, den damit verbundenen Verhaltens- und Kleidungsauflagen möchten sich die flexiblen und mobilen I-Pod-Hörer und Vielflieger nicht ihr Leben vorschreiben lassen. Ideale hat nur, wer gerade Hartz IV bezieht.
Hat der Kapitalismus also die rebellischen Triebe der Jugend endgültig erstickt? Nicht ganz. Es könnte auch sein, dass die Jugend heute nicht nur reicher und egoistischer, sondern auch freier ist. Ohne die Unterdrückung der Franco-Jahre hätte es die „Movida“ nie gegeben. Ohne den Mief und Moder der Nachkriegszeit wären die Studenten 1968 in Paris und Berlin nicht auf die Straßen gegangen. Weil die autoritären Strukturen von damals verschwunden sind, leiden die Kritik, die Rebellion und mit ihnen die Kunst. Als der ehemalige DDR-Kulturminister Bruno Hempf in dem Film „Das Leben der Anderen“ nach der Wende den Schriftsteller Georg Dreymann wiedertrifft, spottet er: „Jetzt ist es wohl viel schwieriger für sie, zu schreiben“. Das Unrecht, die Unterdrückung der Diktatur sind vorbei – und damit fehlt dem Künstler sein Material. In einer Welt, in der jeder alles darf und alle Tabus gebrochen sind, weiß die Jugend nicht, gegen was sie rebellieren soll. Auf eine neue „Movida“ wird man in Europa vergeblich warten.