Augen auf im Wortverkehr!
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Im Prinzip ist es unmöglich, dass ein Europäer nur seine Muttersprache spricht. Denn in fast jeder europäischen Sprache finden sich ein, zwei oder noch mehr Wörter aus anderen europäischen Sprachen, die teilweise (fast) wörtlich übernommen wurden.
Die Hauptursache für Wortübernahmen: Eine Nation entwickelt ein neues Konzept, für das andere Nationen (noch) wortlos sind. Ebenso war es bei dem wohl bekanntesten europäischen Wanderwort, dem deutschen „Kindergarten“ – ein Konzept, das in Teutonia entwickelt und anschließend nach England, dann Italien exportiert wurde. Die fleißigen Engländer haben das Konzept mittlerweile weiterentwickelt und sprechen auch von to kindergarten („die Kindergartenmethode anwenden“) und „kindergartner“ (früher „Kindergärtner“, heute „Kindergartenkind“).
Ein Wort verbreitet sich besonders dann wörtlich, wenn seine Ursprungsnation in dem entsprechenden Bereich dominant ist und von anderen Nationen imitiert wird. So wurden die europäischen Sprachen in vergangenen Dekaden durch italienische Musikbegriffe bereichert (z.B. piano, adagio), französisches Militärvokabular (z.B. batterie für eine Artillerieeinheit und brigade für einen Heeresverband) und deutsche Wissenschaftswörter (z.B. „Wirtschaftswunder“ stellvertretend für eine schnelle Wirtschaftsentwicklung und „Volkswagen“ für Kleintransporter). Aktuell verbreiten sich englische Ausdrücke der Informatik, wie bit und bug, sowie der Unternehmensführung, wie manager und marketing. Auch in der Küche stehen Nationalbegriffe auf dem menu: Fast jeder kennt dänisches smørrebrød, deutsche wurst und bretzel, französische baguette und café, italienische pizza und pasta, polnische pierogi, russischen vodka…
Da Lehnwörter meist aus Bereichen stammen, in denen die Exportnation innovativ war/ist, stellen sie oft (vermeintlich) typische Ausdrücke für die Ursprungsnation dar. Das kann ein positives Bild vermitteln, etwa wenn Europäer das russische Wort intelligenzija für die Bildungselite verwenden, Italiener und Franzosen das englische week-end für die herrlich freie Wochenendzeit und die Filmbritin Bridget Jones das deutsche Intellektuellenwort „Zeitgeist“. Doch nicht immer vermitteln Exportwörter ein schmeichelhaftes Bild. So benutzen viele Europäer das türkische paşa („Pascha“) oder das spanische macho für einen Chauvinisten oder, extremer, das russische Wort pogrom für eine Massenausschreitung gegen Minderheiten. Auch die Deutschen bekommen ihr Fett weg: Dänen sprechen von Bundesliga-hår („Bundesliga-Haar“) für eine Vokuhila-Frisur (da letztere als charakteristisch für die Fußball-Bundesliga gesehen wurde), Engländer von zögerlicher German angst, Schweden vom nervigen besserwisser, Tschechen vom trügerischen hochstapler und selbst die eigensprachstolzen Franzosen vom bedrohlichen waldsterben.
Zwischen den europäischen Sprachen herrscht ein ständiges Geben und Nehmen, wenn sie auch unterschiedlich aktiv sind (fleißige Exporteure sind England und Deutschland) und unterschiedlich rezeptiv (fleißige Ablehner sind die Franzosen).
Bei ihren Europareisen bleiben Wörter jedoch nicht immer intakt und müssen meist zumindest eine falsche Betonung ertragen. So hat es das französische cul de sac („Sackgasse“) zwar ins Englische geschafft, wird aber – anders als im Original – mit einem betonten „l“ ausgesprochen. Auch Bedeutungsänderungen sind verbreitet – die sehr piquant werden können: Die Norweger benutzen die deutschen Begriffe „Vor-“ und „Nachspiel“, meinen damit aber nicht die Zärtlichkeiten vor und nach dem Geschlechtsverkehr, sondern den Alkoholkonsum vor und nach dem Weggehen. Also Augen auf im Wörterverkehr!
Illustration: ©Henning Studte/http://www.studte-cartoon.de/