“Auch heutzutage erleben wir immer noch eine Apartheid gegenenüber den Roma”
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anne glaseDie Wege der Roma und die von Europa verlaufen heute eher parallel. Für Paolo Pietrosanti, der sie vertreten hat, sind die Roma das Volk mit dem größten Europa-Enthusiasmus. Café babel trifft Paolo Pietrosanti, der von 1993 bis 2000 Kommissar für Auswärtige Angelegenheiten der Organisation International Romani Union (IRU) und Vertreter bei den Vereinten Nationen war.
Die Diskussion um die Zukunft der Europäischen Union geht verstärkt in Richtung eines Europas der Völker, weniger der Staaten. Genau dafür sind die Roma seit jeher eingetreten. Ein Volk, das heute die größte ethnische Minderheit Europas darstellt. Viele von ihnen (in einigen osteuropäischen Ländern sogar 80 % aller Roma) leben unterhalb der Armutsschwelle und haben eine um 15 Jahre niedrigere Lebenserwartung als die „gagé“, wie die Roma die „Nicht-Zigeuner“ nennen.
Die Roma bezeichnen sich gern als „das erste globale Volk“. Die Vorstellung eines Staates halten sie für anachronistisch und würden sich lieber in einer Nation identifizieren. Welche Position vertritt die Union ihnen gegenüber?
Die Europäische Union hat bis heute keine gemeinsame Politik gegenüber den Roma entwickelt. Die Roma stellen eine europäische Minderheit dar, und wenn man über die Haltung der Union ihnen gegenüber zu diskutieren beginnt, so wird das eine grundsätzliche Diskussion über die Richtung der europäischen Politik in Bezug auf Minderheiten im Allgemeinen nach sich ziehen. Europa hat seit etwa zwei Jahren begonnen, den Belangen der Roma mehr Beachtung zu schenken, damals mitgerissen von dem großen Enthusiasmus, den die Initiative des ungarischstämmigen Finanziers Soros im Jahr 2003 ausgelöst hatte.
Wie kam es zu dieser Verbindung?
Soros, der Gründer des Open society institute, hat zu einer zweitägigen Konferenz in Budapest sechs Staats- und Regierungschefs, Vertreter zweier osteuropäischer Länder, den damaligen Weltbankpräsidenten James Wolfensohn und die ehemalige Europakommissarin Anna Diamantopoulou versammelt, außerdem eine ganze Reihe von Politikern, hohen Vertretern multinationaler Organisationen (vom Europarat bis zum UNDP , dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen), Leiter verschiedener NGOs sowie Journalisten (hauptsächlich aus dem Osten, nur sehr wenige aus dem Westen). Ihm ist es gelungen, den acht osteuropäischen Regierungen, der Weltbank und letztendlich auch der Europäischen Union das Versprechen abzuringen, 2005 bis 2015 gemeinsam das „Jahrzehnt der Integration der Roma“ auszurufen, mit noch zu klärenden Modalitäten und offener Finanzierung.
Was ist aktuell definiert worden? Hat die Europäische Union, die sich zum Ziel setzt, „all ihren Bürgern einen gleichberechtigten Zugang zu Bildung, Arbeit und Gesundheit zu garantieren“, bestimmte Programme bezüglich der Roma vorgesehen?
Geplant sind spezielle Programme, die durch diejenigen EU-Mitgliedstaaten geleitet werden, in denen Zigeuner leben. Das Programm PHARE , der Generaldirektion für die Erweiterung der Europäischen Kommission sieht beispielsweise besondere Maßnahmen zur Integration der Roma vor. Neben der sozialen und wirtschaftlichen Wiederherstellung liegt ein besonderer Schwerpunkt des PHARE-Programms auf der Integration ethnischer Minderheiten sowie auf den Bedürfnissen von Sprechern von Minderheitensprachen in den Ländern Mittel- und Osteuropas, wie zum Beispiel Jiddisch oder die Sprachen der Sinti und Roma. Meines Erachtens müsste es einen „Kommissar für die Angelegenheiten der Roma“ geben, um ein so wichtiges Problem auf europäischer Ebene anzugehen.
Vor einigen Jahren hat die IRU den Vorschlag einer europäischen Staatsangehörigkeit für die Roma vorgebracht; diese Forderung stützte sich auf eine Möglichkeit, die in den Gründungsverträgen der Europäischen Gemeinschaften für alle Bürger vorgesehen war. Hat der Vorschlag Zustimmung gefunden?
Es hat nicht nur an Zustimmung gefehlt, der Vorschlag hat anfangs sogar ein gewisses Misstrauen hervorgerufen. Was wir eigentlich unterstützt haben, war das Ende der Übereinstimmung von Staat und Nation, in deren Verflechtung in der Vergangenheit oft der Grund für Kriege gelegen hat. Als wir im Jahre 2000 unseren Vorschlag präsentierten, war die Zeit noch nicht reif dafür, Europa war in den Köpfen der Menschen vorrangig noch ein Gefüge von Staaten. In den Jahren 2000 bis 2002 haben ich und der damalige Präsident der IRU, Emil Scuka, jedoch zwölf europäische Staats- und Regierungschefs getroffen, die unserer Vision sehr aufgeschlossen gegenüber standen, eine Europäische Union der Völker zu entwickeln und nicht so sehr eine Union der Staaten.
Rumänien, Ungarn, die Slowakei, die Tschechische Republik und Bulgarien - in diesen Ländern leben 80 % der Roma-Bevölkerung weltweit. Was hat sich mit dem Beitritt einiger dieser Länder zur Europäischen Union für sie geändert (oder ist dabei sich zu ändern)?
Der Prozess, der schließlich zum EU-Beitritt einiger osteuropäischer Länder geführt hat, in denen ein hoher Anteil an Zigeunern lebt, hat die Regierungen dazu gezwungen, einige in den normativen Systemen verankerte Formen der Diskriminierung zu beseitigen. Aber in zahlreichen Alltagssituationen gibt es immer noch eine Art von Apartheid gegenüber den Roma.
Sie treten für das Recht ein, nicht nur als Staatsangehörige desjenigen Landes, in dem sie leben, sondern darüber hinaus auch als europäische Bürger anerkannt zu werden. Die Roma scheinen zu einem der europhilsten Völkern zu gehören. Welchen „Mehrwert“ können sie Europa geben?
Die Roma können Europa helfen, sich darüber klar zu werden, in welche Richtung es weitergeht. Eben darin liegt der Schlüssel, um die Frage der Roma in die Diskussion über die Union einzubringen. Es handelt sich um eine sehr wichtige Partie, denn es geht dabei auch um die Fähigkeit, staatliche Egoismen und Vermächtnisse zu überwinden, alles Dinge, die dem Erweiterungsprozess und der Herausbildung einer echten Union der Völker mit kohärenten Politiken und gemeinsamen Zielen im Wege stehen.
Translated from “Assistiamo tutt’oggi a un apartheid nei confronti dei Rom”