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arte: Europa aus nächster Nähe fernsehen

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Default profile picture Hartmut Greiser

Gesellschaft

19 Uhr 15: Nazan Gökdemir, deutscher Journalist mit türkischen Wurzeln, präsentiert die Nachrichten des Tages. 19 Uhr 45, Klappe die zweite: Leïla Kaddour-Boudadi, algerisch-stämmige Französin, moderiert das arte-Journal. Willkommen in der komplexen Welt eines europäischen Fernsehsenders. Ein Tag hinter den Kulissen des deutsch-französischen Kulturkanals arte.

Mittagspause bei ARTE. Hungrige Journalisten aller Altersgruppen bestellen ein preiswertes Mittagessen in der Kantine, in der es zugeht wie in einem Bienenstock. Überall um mich herum wird Französisch und Deutsch gesprochen, gemischte Gruppen sieht man aber nicht sehr oft. Als Außenseiterin ohne Presseausweis hole ich mir einen Orangensaft und spaziere auf die sonnige Terrasse mit Aussicht auf Straßburgs zahlreiche, faszinierende Kanäle. Nach der Mittagspasue geht’s wieder zurück an die Arbeit. Teamwork ist angesagt. Die französischen und deutschen Journalisten bei ARTE jonglieren nicht nur mit unterschiedlichen Sprachen, sondern haben deshalb auch völlig gegensätzliche Arbeitsmethoden: sie sind offensichtlich in ihren jeweiligen Heimatländern im Medienbereich ausgebildet worden. Bei ARTE verbinden sich die beiden Ideale - das gilt nicht nur für die eigenen Kollegen, sondern auch für die verschiedenen Publikumsformate, die es gibt.

Hinter den Kulissen eines zweisprachigen Fernsehsenders

„Eigentlich sind wir dauernd dabei, uns unsere Sichtweisen gegenseitig zu erklären.”

„Wir brauchen in der Redaktion oft lange, um auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen”, erzählt Journalist Patrick Schulze-Heil. „Franzosen und Deutsche sind nicht immer derselben Meinung. Sie haben nicht die gleichen Fragen oder dieselbe Vorstellung von so etwas wie einer Informationshierarchie.“ Er denkt kurz nach und fügt hinzu: „Eigentlich sind wir hier dauernd dabei, uns unsere Sichtweisen gegenseitig zu erklären. Und das ist wichtig, weil Journalisten und Redakteure mit ihren Ansichten eine große Verantwortung übernehmen.”

Singe Matzner, eine Redakteurin, die früher für die mehrsprachige Radio- und Fernsehstation Deutsche Welle gearbeitet hat, ist derselben Meinung. „Durch die verschiedenen Ansichten in der Diskussion ergibt sich ein interessanter Ausgleich”, sagt sie. „So ist es einfach, die andere Seite darauf hinzuweisen, dass sie möglicherweise übertreibt oder dass es eine globale Sicht auf ein Thema gibt.” Journalisten werden oft durch nationale Medien beeinflusst. Die Suche nach wechselseitigem Verständnis untereinander ist Teil ihrer täglichen Arbeit in diesem internationalen Joint Venture. Übersetzer arbeiten oft ohne Unterbrechung, und die sogenannten „Polyglottes” sorgen als Mehrsprachler für eine Art technische Koordination im Sprachen-Wirrwarr von ARTE.

„Es gibt mehr als nur eine einzige Perspektive auf die Welt“, meint Singe Matzner.10 Uhr 20 – Zeit für die erste Redaktionssitzung des Tages. Alle Mitarbeiter sind anwesend. Arbeitssprache ist Französisch. Die Journalisten werden von den bereits erwähnten Übersetzern und den zweisprachigen Journalisten unterstützt. Der Chefredakteur und der Programmdirektor des heutigen Abends – beide sind Deutsche – gehen den Themenkatalog für den Tag durch. Die Themen werden nach Interessenslage der Journalisten verteilt, berücksichtigen aber auch die Ansprüche der französischen und der deutschen Zuschauer. Entsprechend werden die Stories über den Besuch des französischen Präsidenten François Hollande in Afghanistan und über die entlassenen Mitarbeiter der deutschen Drogeriemarkt-Kette Schlecker zugeordnet. Die Journalisten verfeinern ihre Texte und besprechen sich mit den Bildtechnikern und -redakteuren. Die Übersetzer machen sich mithilfe einer speziellen Software in ihren Büros an die Arbeit. Anschließend sorgen die „Polyglotten“ dafür, dass beide Endfassungen zusammenpassen: Jetzt geht es um Bedeutungsnuancen, um die Untertitel in der jeweils anderen Sprache, um das Synchronisieren und Archivieren. Fehler sind nicht selten, fallen bei der Menge der täglichen Informationen aber meist nicht ins Gewicht. Vielleicht ist es das, worum es im „paneuropäischen Journalismus“ wirklich geht.

ARTE - „europäischer Kulturkanal“?

ARTE wirbt damit, mit seinen Inhalten eine „europäische Sicht” zu liefern. Diese Selbstbeschreibung könnte sich als problematisch herausstellen, wenn man sich die produzierten Programme genauer ansieht. Karen Strupp, Direktorin der Abendnachrichten, sagt, dass diese europäische Perspektive von der angemessenen Themenauswahl abhänge. Und diese richtet sich nach einem Publikum, das in erster Linie aus Franzosen und Deutschen besteht. ARTE wurde 1990 von einem französisch-deutschen Verbund gegründet. Vom ehemaligen französischen Präsidenten François Mitterrand und seinem damaligen deutschen Amtskollegen Kanzler Helmut Kohl unterstützt, ging der Kulturkanal am 30. Mai 1992 erstmals auf Sendung. Seitdem sieht sich ARTE als deutsch-französisches Projekt. Auch die Standorte befinden sich in Deutschland und Frankreich: Straßburg ist Hauptsitz des Fernsehsenders, daneben gibt es noch Büros in Paris und Baden-Baden.

Journalisten haben ein Problem mit grenzüber-schreitenden Codes und 'europäischem Journalismus'

„Der Medien-Soziologe Jean-Michel Utard, der die Entwicklung des Senders seit den Neunzigern verfolgt, meint, dass der Slogan der „Crossborder-Perspektive“ eigentlich nicht viel mehr bedeutet als „zu beobachten, was in anderen Ländern passiert“. Journalisten haben trotzdem ein Problem mit grenzüberschreitenden Codes, und sie haben unterschiedliche Ansichten darüber, was es mit der „europäischen Perspektive” und dem „europäischen Journalismus“ eigentlich auf sich hat. Eine andere Falle könnte sich daraus ergeben, dass Informationen auf deutsch-französische Weise präsentiert werden, was im Gegensatz zur besagten „europäischen Perspektive“ steht. Schließlich hat sich der Sender angepasst, und so haben wir ein zentrales französisch-deutsches Projekt, das trotzdem für andere Kulturen offen ist.

ARTE steht von Anfang an auf intellektuellen Fundamenten, während Fernsehen an und für sich immer als ‚Spiegel der Nation‘ fungiert”, bekräftigt Jean-Michel Utard. „Dieses Konzept wird der Vorstellung gerecht, dass Eliten für einen gewissen Informations-Pluralismus sorgen.” Ist also diese Mischung aus komplexer Identität und überkreuzten Perspektiven ein reiner Zukunftstraum der Eliten, die ein Modell eines hochqualitativen europäischen Multikulturalismus zur Verfügung stellen wollen? Immerhin dauert dieses Experiment eines globalen Fernsehens bereits 21 Jahre. Und sind wir mal ehrlich: Ähnliche international ausgerichtete Medien machen sich in Europa eher rar.

Translated from Arte: 20 lat francusko-niemieckiego romansu