Armut: Auf der Suche nach dem Ausnahmezustand in Athen
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Während Troika und Regierung am laufenden Band neue Sparmaßnahmen verabschieden, polieren junge Menschen das Image ihres Landes auf und engagieren sich für ein anderes Gesicht der Armut. Zukunftsvision für Europa?
Hört man Athen, schrillen in Krisenzeiten die Alarmglocken. Vor der Abreise sagt mir ein Kollege zum Spaß, ich solle meinen Schutzhelm nicht vergessen. Freunde, die kürzlich in Athen waren, sprechen von einer langsam schwelenden Revolution von unten, die bald losbrechen würde. Es liege was in der Luft.
Als wir aus dem Airportshuttle am berüchtigten Syntagma-Platz aussteigen, dem Epizentrum der Anti-Troika-Proteste, schlägt uns einzig der sanfte Duft von Orangenblüten entgegen. Es ist Frühling in Athen und Großstädter beeilen sich über den geschäftigen Platz vor dem Parlament. Im Anarcho-Viertel Exarchia brummen die Cafés und Terrassen. Einige Geschäfte sind heruntergekommen oder haben geschlossen. Touristenstimmen hört man dieser Tage nur selten. Zum Omonia-Platz traue sich nach Mitternacht nicht mal mehr die Polizei. Doch der Verkehrsknotenpunkt ähnelt einem größeren, nicht besonders ansehnlichen Platz in einer Großstadt. Ein paar Obdachlose, ein paar Penner, ein paar Prostituierte. Wo ist sie denn nun – die vermaledeite Krise? Der Ausnahmezustand?
Täglich erreichen uns neue, alarmierende Berichte. Das Rote Kreuz verteilt in Krisenländern so viele Lebensmittel wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Hungrige Menschen recken ihre Hände nach einer Plastiktüte Orangen, zeigt der Guardian. „Leben im Kriegszustand“, „Not, Armut, Hunger: Griechenland versinkt im Elend“, titelt die internationale Presse. Im Klartext: Es hagelt Hiobsbotschaften aus Athen. Willkommen in einem Dritte-Welt-Land. Mitten in Europa.
Krisenporno
„Wir nennen das Krisenpornographie“, lacht Aggelos in der Omikron-Bar, gleich um die Ecke des Syntagma-Platzes. Heute macht eine überschaubare Gruppe hier zu zehnt gehörig Krach. Sie erinnert an den Selbstmord des 77-jährigen Apothekers Dimitris Christoulas, der sich vor einem Jahr genau hier das Leben nahm: "Wir dürfen unseren Kindern keine Schulden hinterlassen", hatte er gerufen, bevor er sich in den Freitod verabschiedete.
Ismini (30), Aggelos (32) und eine Handvoll junger Griechen und Europäer haben die Nase gestrichen voll von der Image-Krise ihres Landes, dem Ouzo trinkenden Gammelgriechen. Aber warum bekomme gerade Athen ein Armutszeugnis von Europa ausgestellt? Warum ist nicht Dublin der Sündenbock? Oder Madrid? Mit Kampagnen, einem Blog und Videos wollen die prekären Kreativen im Ausland über soziale Netzwerke ein alternatives Bild präsentieren und zu kritischem Hinterfragen anregen.
Das Projekt nennt sich Omikron – nach der Bar, in der die ersten Pläne geschmiedet wurden. „Wir hatten die Endlosdiskussionen satt und wollten endlich handeln“, sagt Ismini. „Ja, Armut und Arbeitslosigkeit existieren. Schweigen ist aber nie eine Lösung“, kommentiert sie das Verbot der griechischen Medienaufsicht, ohne Erlaubnis Bilder verwahrloster Menschen im Fernsehen zu zeigen. „Aber wir wollen euch da draußen auch sagen, wir sind nicht allein hier. Hört auf damit, diesem Land ständig Vorwürfe zu machen, gebt uns mehr Zeit.“
Generation „Working Poor“
Die allgemeine Verunsicherung unter jungen Hellenen in einem Land, das heute 58% Jugendarbeitslosigkeit zählt, ist deutlich: der Trend lautet - bloß weg hier! Schrumpfende Gehälter, höhere Versicherungsbeiträge, eine Mehrwertsteuererhöhung von 19 auf 22 Prozent sowie mehr Steuern auf Alkohol, Benzin und Zigaretten, Stellenabbau im öffentlichen Dienst und Rentenkürzungen mussten die Griechen hinnehmen. Wer das nötige Kleingeld und ein bisschen Mut hat, verlässt das sinkende Schiff, um sein Glück anderswo in Europa zu suchen. Dabei sind auch die letzten Statistiken in der Eurozone kein Zuckerschlecken: 12,1% Menschen sind 2013 in Europa ohne Erwerb.
Athen: Gesichter der “Generation 700 Euro”
In der Mittagssonne von Exarchia diskutieren die Jobeinsteiger Jenny, Giannis und Christos über ihre Generation auf dem Abstellgleis. Christos (34) ist gerade erst aufgestanden und kneift mit den Augen, während er sich eine Zigarette dreht. Der Filmemacher arbeitet als Freelancer und verdient zwischen 400 und 500 Euro monatlich. Ob das für eine Krankenversicherung und andere Grundversorgung reiche? Pfff, er klopft auf Holz, „die hat hier in Griechenland keiner“. Zu Weihnachten musste er zum Zahnarzt, ein Freund konnte ihm glücklicherweise in letzter Minute aushelfen.
Dass er unter der offiziellen Armutsgrenze lebt, wie mittlerweile über ein Fünftel der griechischen Bevölkerung, scheint er relativ locker zu nehmen. Mit prekärem Job, unregelmäßigem Einkommen und ohne jegliche soziale Absicherung gehört Christos zu den Working Poor, deren Diaspora nicht nur in Griechenland, sondern überall in Europa zunehmend ihre Wurzeln schlägt.
Ob sie sich arm fühlen? „Da sind Kids in Schulen, die unterernährt sind, das ist Armut“, sagt Giannis, ein 28-jähriger Dolmetscher kopfschüttelnd. „Wir sind alle beunruhigt, aber niemand wird sterben. Wir haben weniger und daran müssen wir uns gewöhnen. Der große Trend ist – weg aus Griechenland. Oder eben die Familie. Zurück ins Nest. Das ist der Zusammenhalt hier bei uns.“
Aktive Zivilgesellschaft: Das andere Gesicht der Armut
„Ein großer Anteil der Griechen hat Wohneigentum. Die Armut ist auf der Straße also nicht unbedingt sichtbar. Aber du kannst in deinem Haus sitzen und trotzdem Hunger haben“, erklärt Alexander Theodoridis von Boroume ('We can'). Die im Januar 2012 gegründete NGO, die Hotels, Restaurants oder Bäckereien, die überschüssige Lebensmittel sonst wegwerfen würden, mit Athener Suppenküchen verlinkt, ist eine von vielen Initiativen der Athener Zivilgesellschaft, die in den Krisenjahren regelrecht aufgeblüht ist.
Auf dem begrünten Platz, gleich gegenüber des Kallimarmaro, dem ersten Olympiastadion, hat man heute das Gefühl, man sei im letzten Wes Anderson-Streifen Moonrise Kingdom gelandet. Hunderte Pfadfinder in dunkelblauen, kniehohen Socken und blauweiß gestreiften Halstüchern stehen im Kreis. „Starkes Ostattika“ schreien sie lauthals und recken ihre geschnitzten Holzpfähle symbolisch für ihre Region in die Luft. In der Mitte stehen zehn geheimnisvolle Kartons.
Wochenlang hatten die Pfadfinder Pasta, Reis und Konserven gesammelt, um sie heute zusammen mit Boroume an die Besitzer von Suppenküchen aus der Athener Vorstadt – wie zum Beispiel Tavros im Südwesten der Stadt – auszuhändigen. Stella und ihr Sohn Zacharias kommen wortlos vorbei und stellen drei Plastiktüten zu den Kartons. Sie haben die Boroume-Aktion auf Facebook gesehen und kamen spontan dazu. Ansonsten hätte Stella Lebensmittel wegwerfen müssen. Denn in der Sommerzeit wohnt und arbeitet sie in einem Hotel auf Kreta. „Ich bin hier, um denen zu helfen, die es gebrauchen können, auch wenn ich meine eigenen Probleme habe“, erklärt sie und hakt sich bei Zacharias unter, bevor sie sich wieder auf den Heimweg machen. Die Lebensmittel werden in Kleintransportern verstaut, die Pfadfinder sind bereits weitergezogen. Alltag in Athen - ganz ohne Ausnahmezustand.
Dieser Artikel ist Teil der Reportagereihe ‘EUtopia on the Ground’, die jeden Monat die Frage nach der Zukunft Europas aufwerfen soll. Das cafebabel.com Projekt wird von der Europäischen Kommission im Rahmen einer Zusammenarbeit mit dem französischen Außenministerium, der Fondation Hippocrène sowie der Charles Léopold Mayer-Stiftung unterstützt.
Illustrationen: Teaser (cc)Protonotarius/flickr; Im Text: Omikron 'Get the whole picture' (cc)offizielle Facebook-Seite von Omikron Project, (cc)KK; Video (cc)omikronproject/YouTube