Antisemitismus in Frankreich: Torheiten vs. Thora
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Andrea SchindelVon außen scheint es so, als hätte Frankreich ein Problem mit Juden. Die Beliebtheit des Komikers Dieudonné, der gerne den Holocaust verharmlost und Jean-Marie Le Pen der Juden in einem Atemzug mit Öfen nennt, haben das Land in Verruf gebracht. Eine Reportage aus dem Pariser Bezirk Marais: von Schreckgespenstern und vielen Zahlen.
Je weiter man sich der Rue des Rosiers nähert, einem Ort im vierten Arrondissement von Paris, der als Zentrum der jüdischen Gemeinschaft gilt, spürt man plötzlich eine andere Atmosphäre. An diesem sonnigen Mittwochnachmittag drängt sich eine beträchtliche Menschenmenge auf die Straße. Um sie herum sorgen schöne Gebäude, Läden, Büchereien, Restaurants und verschiedene Händler für den besonderen Charme. Genau an diesem friedlichen Ort fand am 9. August 1982 ein antisemitisch motiviertes Attentat auf das Restaurant „Jo Goldenberg" statt, welchem 6 Tote und 22 Verletzte zum Opfer fielen. Erst 19 Jahre danach wurde eine palästinensische Bewegung namens Abu Nidal Organisation von der französischen Justiz für die Tat verantwortlich gemacht.
„Eine feindliche Agenda, die es auf Juden in aller Welt abgesehen hat“?
Fragt man heute die Einwohner des Quartiers, wie es um Antisemitismus in Frankreich steht, kommen sie ins Grübeln. Einige bezweifeln, dass es ihn wirklich gibt. „Nach den Berichten der letzten Jahre verschwindet der Antisemitismus mehr und mehr aus unseren Straßen. Aber die Erinnerung an das schreckliche Attentat bleibt trotzdem immer in uns“, erklärt ein jüdischer Anwohner mit bebender Stimme. Eine Frau der gleichen Konfession unterbricht ihn schreiend: „Der Antisemitismus in Frankreich bekommt immer mehr Anhänger. Jene, die sagen, es gäbe ihn nicht in diesem Land, stellen sich gegen die Erwartungen und Sehnsüchte der französischen Juden. Sie befürworten damit eine feindliche, außenpolitische Agenda, die es auf die Juden in aller Welt abgesehen hat.“
Die Wahrnehmung und das Verständnis vom Antisemitismus klaffen sogar innerhalb der jüdischen Gemeinde weit auseinander. Die Antworten, der in Paris geführten Interviews, lassen sich in drei Kategorien ordnen: (1) jene, die sagen, dass es Antisemitismus gibt und die bestätigen, dass der Hass auf Juden steigt; (2) jene, die nichts dazu sagen können, da sie sich noch nie damit auseinander gesetzt haben; und (3) schließlich jene, welche die Existenz des Antisemitismus in Frankreich abstreiten, abgesehen von seltenen Einzelfällen.
„Nach einem Verbrechen an einem Juden, einem Schwarzen oder einen Moslem darf man in keinem Fall sagen, dass er einer rassistisch motivierten Tat zum Opfer gefallen ist“, bestätigt Isaac, ein junger Jude aus Paris, „sondern man muss sagen, dass eine bestimmte Person französischer oder anderer Nationalität einer kriminellen Straftat zum Opfer wurde. Dann muss die Justiz die Schuldigen finden und ihre Motive aufklären. Erst ab diesem Moment kann man feststellen, ob die Aggression auf Rassismus basiert oder nicht.“ Isaac sagt von sich, dass er sehr an seiner Religion und seinen Wurzel hängt. Manchmal ärgert er sich sehr über bestimmte Pressetitel, die wie er sagt „in einigen Fällen den rassistischen Hass nähren und bestimmten Personen Fakten geben, um den Terror zu verstärken. Sobald man angibt, dass ein Opfer jüdisch oder muslimisch ist, sind sofort alle überzeugt, dass es sich um eine antisemitische oder islamophobe Tat handelt. Das ist aber nicht immer der Fall.“
„Antisemitismus ist die Propaganda Israels“ ?
Avraham Weinberg ist Wärter in der Synagoge „Adath Israel“, die im elften Pariser Arrondissement zu finden ist. Nach einem langen Gespräch, findet er plötzlich sehr klare Worte: „Es gibt absolut keinen Antisemitismus in Frankreich.“ Er erklärt, dass „es zwar stimmt, dass Juden ab und zu bedroht werden“, was er sehr bedauere, „deswegen dürfen wir aber nicht die Leute verrückt machen.“ Ist der Antisemitismus also ein Schreckgespenst? Für Avraham „ist es der Staat Israel, der eine Propaganda geschaffen hat, die dafür sorgen soll, dass die französischen Juden nach Israel kommen und dort ihr Geld lassen.“
Avraham Weinberg ist in Israel geboren und hat dort seine ersten zehn Lebensjahre verbracht. Er erinnert sich an eine glückliche Kindheit, in der er mit arabischen Kindern gespielt hat. „Wir waren wie Brüder, wir sind zusammen aufgewachsen und wir haben uns nie fremd gefühlt oder gemerkt, dass wir verschiedener Abstammung sind“, seufzt er. Avraham beschuldigt die Zionisten (Bewegung, die auf die Errichtung, Rechtfertigung und Bewahrung eines jüdischen Nationalstaats in Palästina abzielt, A.d.R.) für die Verschlechterung der Situation im Nahen Osten verantwortlich zu sein. „Sie (die Zionisten) sind blind vor Gier, das Land zu kolonisieren. Sie wollen die Welt regieren, zusammen mit der Weltmacht USA.“
Zahlen und Unbehagen
Im Jahr 2013 wurde vom SPCJ (Service de Protection de la Communauté Juive, dt. ‘Dienst zum Schutz der jüdischen Gemeinschaft‘) der französische Antisemitismus-Report herausgebracht. Darin ist zu lesen, dass „der Antisemitismus in Frankreich über die Konjunktur der Konflikte im Nahen Osten hinaus betrachtet werden muss. Es handelt sich um einen strukturellen Missstand, der längst nicht so ausgebremst wurde, wie es möglich gewesen wäre.“ Die Daten für den Bericht wurden gemeinsam mit dem französischen Innenministerium erhoben. Seine Zahlen und Statistiken zeigen einen eindeutigen Anstieg des Antisemitismus in Frankreich. Der SPCJ gibt an, dass die Vorfälle im Jahr 2013 über „legitime, zu erwartende Zahlen“ hinausgingen, obwohl bereits eine Verminderung um 31 % der antisemitisch motivierten Taten (im Vergleich zum Bericht von 2012) festzustellen ist. Der SPCJ betrachtet 2012 als „extremes Jahr in Bezug auf den Antisemitismus“ (614 antisemitische Straftaten, A.d.R.). Für das Jahr 2013 bleibt die Zahl der Vorfälle erhöht (423 antisemitische Straftaten, A.d.R.) verglichen zu 2011 (389 antisemitische Straftaten, A.d.R.). Diese Entwicklung beschreibt die Studie als „besorgniserregend“. Der SPCJ erklärt, dass der Zeitraum 2011-2013 eine siebenmal höhere Anzahl an antisemitisch motivierten Straftaten, verglichen zur Zeit der 90er Jahre, zeige. Die meisten dieser Taten von 2013 wurden in Paris begangen, hier wurden 77 Fälle gezählt. Die Hälfte davon lässt sich auf nur vier Arrondissements begrenzen: das 16. und das 19. (jeweils 12 antisemitische Straftaten, A.d.R.), das 11. (9 antisemitische Straftaten, A.d.R.) und das 20. (8 antisemitische Straftaten, A.d.R.).
Der SPCJ wurde vom CRIF (Conseil Représentatif des Institutions Juives de France, dt. ‘Zentralrat der Jüdischen Institutionen in Frankreich’) gegründet und finanziert. Sein Sicherheitsdienst ist nicht besonders gastfreundlich, auch nicht gegenüber ausländischen Journalisten. Man wird abgewiesen, obwohl man nur ein paar Fragen stellen wollte. Erst nach umständlichen Telefonate, findet sich endlich eine Person, die mich einlädt „alle Fragen, die ich habe, zu stellen“! Als es soweit war, war sie jedoch unkonzentriert und desinteressiert an unserem Interview. Sie riet uns sogar, unsere Antworten doch besser im Internet zu suchen. Heraus begleitet wurde ich von drei Männern, einer davon Polizist. Anscheinend gibt es auch noch Dinge, die von den Zahlen nicht erklärt werden können.
Dieser Artikel ist Teil einer Sonderreihe über Paris, die auf Initiative von Cafébabel in Zusammenarbeit mit „i-watch“, „Search for Common Ground“ und der „Anna-Lindh-Stiftung“ im Rahmen des Projekts "Euromed Reporter" veröffentlicht wird. Weitere Artikel demnächst auf der Startseite dieses Magazins.
Translated from L'antisémitisme en France : à Torah et à travers