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Ankunft in Athen: Vom Regen in die Traufe

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Der Zusammenbruch der Wirtschaft in Griechenlands Hauptstadt hat Spuren hinterlassen. Trotz Hilfspaketen hat sich die Lage nicht gebessert, strenge Sparauflagen vertiefen die Risse: Ein großer Teil der griechischen Bevölkerung ist verarmt, fast jeder zweite junge Mensch ohne Arbeit und immer mehr Menschen droht ein Leben auf der Straße. Aussicht auf Besserung - Fehlanzeige!

Als wäre das Schicksal der Griechen allein nicht genug, kämpft die Stadt längst mit einer neuen Herausforderung: Der Ankunft tausender verzweifelter Menschen, die auf der Flucht vor Krieg und Armut durch die Grenzschließung auf der Balkanroute erst einmal hier festsitzen. Athen zeigt sich derzeit als der Krisenherd Europas, auf dem europäische und globale Problemlagen verschmelzen. Ein Streifzug durch eine aufgewühlte Stadt.

Die Krise lässt keine Träume mehr zu

„Shedia, die neue Ausgabe von Shedia.“ Schon von weitem höre ich die Stimme der Straßenzeitungsverkäuferin Maria am U-Bahneingang Metaxourgio, nur knapp zwei Kilometer von der Akropolis entfernt. Gekleidet in eine knallrote Weste und Käppi, hofft die junge Frau inmitten der vorbeiströmenden Menschenmassen Abnehmer für Griechenlands Obdachlosenmagazin Shedia zu finden. Doch zwischen all den Losverkäufern, Anbietern von Busreisen nach Albanien und Frauen, die für Sim-Karten werben, bleibt nur selten jemand stehen. In Krisenzeiten verkauft es sich schwer.

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Dass sie einmal hier landen würde, hätte die 30-jährige Griechin noch vor ein paar Jahren für unmöglich gehalten. Ihre Zukunft schien vielversprechend. Grafikdesign hat sie studiert, mit Auszeichnungen abgeschlossen. Ein Universitätsabschluss mitten hinein in die Finanzkrise. „Egal, was ich versuchte - alle erzählten mir nur, dass sie immer mehr Leute entlassen müssten, niemand wollte mehr jemanden einstellen. Sich nicht mal mehr das Nötigste leisten zu können, ist frustrierend. Aber das Schlimmste ist: dein Gehirn hört auf zu funktionieren, wenn du keine Arbeit hast.“ Gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrem Bruder lebt sie bei ihrer Tante in Nikaia, einem ärmeren Hafenviertel der Stadt. Doch nur ihre Mutter hat noch Arbeit - für die ganze Familie reicht das kaum aus. Der Schuldenberg ist groß. Ein Leben am Existenzminimum.

Doch Geschichten wie Marias sind längst keine Ausnahme mehr. 36% der Griechen leben laut den letzten Erhebungen von Eurostat (Oktober 2015) derzeit unterhalb der Armutsgrenze. Durch den Verkauf des Straßenmagazins, das Bedürftigen ein kleines Einkommen bringen soll, hat Maria wieder etwas Boden unter den Füßen gewonnen. Seit zwei Jahren steht sie täglich von 8 bis 16 Uhr an einer der zahlreichen Verkaufsstellen in der Stadt. Die Hälfte der Einnahmen darf sie behalten. Zu Anfang hatte sie sich dafür noch geschämt. Als sie einmal einer Kommilitonin begegnete, taten beide so, als erkannten sie sich nicht. Heute hat Maria sich mit ihrer Situation abgefunden: „Die Krise lässt Träume nicht mehr zu. Ich bin 30 Jahre alt, ich sollte eigentlich eine Familie gründen, ein eigenes Haus haben. Aber unsere alten Wertvorstellungen sind verloren gegangen. An so etwas wage ich schon gar nicht mehr zu denken. Ich freue mich, wenn ich am Tag etwas Geld zusammen bekomme, um meine Mutter zu unterstützen.“ Immerhin - bis Feierabend konnte sie doch noch 12 Hefte verkaufen.18 Euro Tagesumsatz. Ein guter Tag. Als einer der Losverkäufer zum Abschied zu ihr kommt und ihr eine Banane schenkt, zeigt sie sich hoffnungsvoll: „Das ist das einzig Gute. Wenn eines wächst in der Krise, ist es die Solidarität.“

Hier siehst du die Realität und die trifft dich hart

Wie die Solidarität aussehen kann, erfahre ich am Abend, als ich zusammen mit den Streetworkern der NGO EMFASIS im Auto sitze, um sie auf einer ihrer Nachttouren zu begleiten. Ausgerüstet mit Essen, Schlafsäcken und dem nötigsten Grundbedarf suchen die ehrenamtlichen Helfer Hilfsbedürftige der Stadt auf. Tag und Nacht sind sie im Einsatz. „Das ist unser Prinzip: Wir gehen zu denen, die in Not sind. Wir sind für sie da, hören ihnen zu und versuchen ihnen ihre Würde zurückzugeben“, erklärt mir die junge Psychologiestudentin Efremia, die sich mehrmals die Woche für die Obdachlosen ihrer Stadt engagiert. Der Einsatz der Streetworker ist dringend notwendig. Denn sobald es dunkel wird, zeigt sich das Ausmaß der Wirtschaftskrise in den Nebenstraßen Athens, wenn Hauseingänge und Lüftungsschächte zu improvisierten Schlaflagern werden. Der UN-Menschenrechtsrat berichtet von über 20.000 Wohnungslosen in Griechenland. Allein 15.000 davon im Großraum Athen. Darunter zählen längst nicht nur Stadtstreicher oder Drogenabhängige. Die „neuen Obdachlosen“ sind immer mehr Griechen aus der Mittelschicht, die im Zuge der Krise erst die Arbeit und dann ihre Wohnung verloren haben. Sozialhilfe gibt es keine, das Arbeitslosengeld ist auf maximal zwei Jahre begrenzt - Vor Wohnungslosigkeit ist in Griechenland keiner mehr sicher. „Ich sehe so viele junge Menschen auf der Straße, deren familiäres Netz weggebrochen ist. Sogar meine ehemaligen Nachbarn habe ich wiedergetroffen,“ berichtet Efremia während wir Athens Hafen Piräus ansteuern.

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Zwischen riesigen Fährschiffen, die im Hafenbecken ruhen, haben einige Obdachlose auf den Wartebänken ihr Nachtlager aufgebaut. Die Streetworker werden schon erwartet. Eine warme Mahlzeit, Tee, sogar Bücher an gestrandete Intellektuelle verteilen wir an diesem Abend. „Wir leisten nur kurzzeitige Notfallhilfe. Eine langfristige Lösung muss der Staat liefern. Doch da passiert nichts. Hier draußen sehe ich ja die Realität und die trifft dich hart“, so Teamleiterin Tzoanna. Besonders der Anblick zwei kleiner Kinder einer jungen Familie, die keinen Platz mehr im Obdachlosenheim bekommen haben, schmerzt die Helfende: „Es gibt so viel zu tun. Unsere Kräfte sind langsam erschöpft, aber es ist kein Ende in Sicht. Und dazu kommen noch die Flüchtlinge, die Hilfe brauchen.“ Kurz darauf wird das gesamte Ausmaß des griechischen Dilemmas deutlich als ein riesiges Fährschiff anlegt und die Stille im Hafen stört. Hunderte Flüchtlinge strömen aus dem Bauch des riesigen Fährschiffes heraus in die Athener Nacht. Junge Männer, Frauen, Alte, Kranke, Kinder - der Strom scheint nicht abzureißen. Möwen kreischen über ihren Köpfen, das Durcheinander ist groß. Frauen fragen nach Wasser für ihre Kinder. Aber wir haben nur noch ein paar Schokocroissants und ein wenig Milch zu geben. Die Rationen sind innerhalb weniger Minuten verteilt und wir blicken mit leeren Händen auf ein groteskes Bild: Rund um die schlafenden Obdachlosen der Stadt, die alles verloren haben, sammeln sich die Menschen, die alles hinter sich gelassen haben. Auf der Suche nach einem neuen Leben. Weiterreise ungewiss, Ankunft nicht absehbar. Dass die Grenze zu Mazedonien geschlossen ist, hat sich längst herumgesprochen. Die Auffanglager sind schon jetzt völlig überfüllt. Zehntausende Flüchtlinge sitzen bereits im Land fest. Mit bis zu 100.000 rechnet die Regierung allein im März. Wer keine Geldreserven mehr für eine Unterkunft hat, dem droht in Griechenland das gleiche Schicksal, wie den griechischen Obdachlosen neben ihnen. Ein Vater aus Afghanistan, der mit seiner zehnköpfigen Familie hergekommen ist, weiß noch nicht, wo sie die Nacht verbringen werden. Hauptsache sie können so schnell es geht weiter: „Hier können wir nicht bleiben, in Griechenland gibt es keine Zukunft für uns.“

„So haben wir uns Europa nicht vorgestellt“

Doch Athen wird für viele zum ungewollten Zwischenstopp: Das zeigt sich am nächsten Tag auf dem zentralen Viktoriaplatz. Hunderte Flüchtlinge sind hier gestrandet. Ihr Hab und Gut in wenige Taschen gepackt, haben sich ganze Familien auf den Grünflächen und Parkbänken improvisierte Schlaflager errichtet. Dabei mangelt es an allem: es gibt weder WC’s, noch Trinkwasserstellen. Aus einem kleinen Van teilen freiwillige Helfer warme Mahlzeiten aus, die kaum für alle reichen werden. Hier treffe ich auf Sami, Namgo und Gewed. Die drei jungen Afghanen sind Anfang 20 und seit über zwei Monaten auf der Flucht. Ihr Ziel ist Deutschland. Doch auch ihre Reise wurde am Grenzzaun zu Mazedonien abrupt beendet. Für Afghanen gibt es kein Durchkommen. Nur einige hundert Syrer und Iraker dürfen täglich passieren. Die jungen Männer wurden zurück nach Athen geschickt. Seit vier Tagen schlafen sie auf dem Platz im Freien.

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„So haben wir uns Europa nicht vorgestellt. Wir haben unser ganzes Geld auf der Flucht ausgegeben, haben nichts mehr als einen Schlafsack und müssen nachts frieren. Wir wären in Afghanistan geblieben, wenn es sicher wäre. Aber dort ist es lebensgefährlich für uns.“ Aus Angst, dass ihm niemand glaubt, zeigt Sami ein Foto seines bei einem Bombenanschlag getöteten Bruders. Sein Blick verrät seine verzweifelte Hoffnung, dass sich die Grenze doch noch für sie öffnen möge. Sie werden nicht müde jeden danach zu fragen. Antworten finden sie in diesen Tagen keine. Es ist bereits zu spüren, wie ihre Kräfte in den Tagen des Wartens schwinden. Man muss nur über den Platz blicken, um zu ahnen: Griechenland droht eine humanitäre Katastrophe. Zum Abschied haben die drei Afghanen noch eine Bitte. Ein Foto von sich wollen sie lieber nicht im veröffentlicht sehen. „Wenn unsere Mütter uns so sehen, sie würden einen Herzinfarkt bekommen. Wir können Zuhause nicht erzählen, wie es uns in Europa ergeht.“

Auf meinem Streifzug wird klar: Vielen Griechen und den hier festsitzenden Flüchtlingen ist die Verzweiflung gemein. Die Stadt zeigt sich in diesen Tagen als trauriges Epizentrum eines scheiternden Europas. Und das Schlimme: Ein Ende ist nicht in Sicht. Allein wird Griechenland die Doppelbelastung aus Finanz- und Flüchtlingskrise nicht bewältigen können.

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Dieser Artikel ist Teil unserer Reportagereihe 'EUtoo' 2015 zu 'Europas Enttäuschten', gefördert von der Europäischen Kommission.