Andrea Nahles, Angriff von links unten
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Die jungen Linken in Deutschland haben ein Gesicht: Andrea Nahles, 35, politische Quertreiberin mit Vorstandsposten in der SPD. Ihre politischen Ideen vertritt sie mit Hochdruck. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa.
Das Büro im ersten Stock des gläsernen Abgeordnetenhauses neben dem Berliner Reichstag platzt aus allen Nähten. In den Schrank passen nur drei Mäntel, auf die Schreibtische dafür umso mehr Papiere. Der Blick aus dem Fenster geht nicht auf die zauberhaft zugefrorene Spree, sondern auf eine Front weiterer voll gestopfter Arbeitsräume.
Kein verdrücktes Hintenrum
Zeit für einen kleinen Brunch außer Haus hat die SPD-Spitzenfrau nicht. Aber in die Termin-Lücke am Freitag mittag passt noch ein kurzes Gespräch. „Käffchen?“, fragt die Mitarbeiterin im Vorbeigehen. Ja, gern. Da rauscht die Chefin schon rein. Dass diese Frau zupacken kann, merke ich schon an ihrem Händedruck. Und was es heißt, wenn sie auf Volldampf schaltet, wird mir in der nächsten halben Stunde klar.
Eine ungebremste Flut von Worten strömt auf mich ein, rau und herzlich. Präzise formuliert wirken ihre Sätze, aufbrausend ihre Gestik. Mit ihrem bestimmten Lächeln entschärft sie jede Kritik, die ihr über die Lippen kommt, ihr Wesen ist einnehmend... Und doch gibt es kaum jemanden in der SPD, der schon so viele offene Konflikte mit den Größen der eigenen Partei ausgefochten hat wie Andrea Nahles. Eine Konfrontation ist ihr lieber als ein verdrücktes Hintenherum. Andrea Nahles handelt nicht nur quer zu den parteiinternen Gepflogenheiten, sie denkt auch quer zum politischen Mainstream in der SPD. „Linke Ideen müssen in der Politik mehr Gewicht bekommen“, sagt die 35-Jährige. Deshalb gründete sie vor gut fünf Jahren das „Forum Demokratische Linke 21“, ein Bündnis junger Linker in der SPD, dessen Vorsitzende sie bis heute ist. „Es ist sinnvoll, sich innerhalb der Partei zu organisieren. So hat man bessere Chancen, Gehör zu finden. Die anderen Lager in den großen Parteien machen das ja auch so!“
Sozial Schwache sind keine Schwächlinge
„Linkssein“, was heißt denn das heute? Erwähnt man die deutsche „Linkspartei“, den Zusammenschluß aus ostdeutschen Exkommunisten und enttäuschten West-Sozialdemokraten, schießt der bedacht formulierenden Andrea Nahles das Blut in den Kopf. „Die Linkspartei hat das Linkssein nicht für sich gepachtet“, sagt sie vehement, und in diesem Moment bin ich froh das ich nicht Gregor Gysi heiße und Fraktsionsvorsitzender der „Linkspartei“ im Bundestag bin. Natürlich, gibt Nahles zu, verstehe sich die „Linkspartei“ als Fürsprecherin der Schwachen in der Gesellschaft. Aber sie nehme die Bürger nicht ernst. „Die Bürger sind doch keine Opfer! Im Gegenteil: Von ihnen kommt die Kraft, die unsere Gesellschaft ausmacht.“ Sozial Schwache sind für Nahles keine Schwächlinge. Gut. Aber wie sieht soziale Gerechtigkeit für starke Bürger konkret aus? „Manche finden nicht sofort den Aufzug nach oben und müssen deshalb die Treppe nehmen. Wir müssen den Menschen dabei helfen, diesen schwereren Weg trotzdem zu schaffen.“
Scharfe Worte findet Nahles auch für den rigorosen Pazifismus der Linkspartei. „Hanebüchen“ seien die Positionen, die da im Bundestag von linkester Seite vertreten würden. Populär, aber vollkommen an der Realität vorbeigedacht. „Deutschland im 21. Jahrhundert, im Herzen Europas, ist eingebunden in Bündnisse wie die EU, die NATO, die UNO. Das schafft Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten. Das kann man doch nicht einfach ignorieren!“ Halt: War das Eintreten für den Frieden nicht mal ein klassisch linkes Ideal? Wo bleibt der offensive Geist der vormals unbeugsamen Militarismus-Kritikerin?
Ihr Pragmatismus zeigt sich auch in parteiinternen Konflikten. Zwar hat sie im Herbst letzten Jahres zum Sturz von Parteichef Müntefering beigetragen, doch die Krone der Generalsekretärin wollte sie sich nicht aufsetzen lassen. Kampf war gestern, Kooperation ist heute? Nein, für sie gebe es Grenzen der Eskalation. „Wer denkt, Politik könne man mit dem Kopf durch die Wand machen, der hat naive Vorstellungen.“ Ein freundliches Lächeln und weiter im Text.
Linke Graswurzel-Republikaner
Die modische Schlüsselkompetenz des „Netzwerkens“ hat Andrea Nahles nicht nur auf nationaler Ebene perfektioniert. Zusammen mit der französischen „Gauche Socialiste“ gründeten die jungen SPD-Linken den „Europäischen Club“, dessen Ziel es ist, eine „Europäische Republik“ zu errichten. Ein Europa mit starken Regionen, mit einer Verfassung, die der vorgeschlagenen ähnele, aber einem Grundkonzept folge, das sozial gerechter sei als die wirtschaftspolitische Orientierung der heutigen EU. „Aber dass die französischen Sozialisten so heillos zerstritten sind, ist nicht gerade hilfreich“, beklagt Nahles. Die Stimmungsmache vieler Sozialisten gegen die Verfassung könne sie bis heute nicht nachvollziehen. „Das französische Nein zur Verfassung war ein echter Schlag für uns“, gesteht sie. Muss also ein neuer Partner her? „Die Polen sind wichtig. Sie könnten ein starker Verbündeter werden“, überlegt sie laut.
Für Andrea Nahles liegt die Zukunft eines alternativen Projekts von Europa in den so genannten „gras-root-Organisationen“, die sich überall in Europa mit enormer Geschwindigkeit ausbreiten. Nur da könne sich die Kraft entwickeln, die für die Veränderung der bestehenden Verhältnisse gebraucht werde. Nicht umsonst sei sie „überzeugtes attac-Mitglied“. Eine europäische Graswurzelrevolution? Und das mit einer Jugend, die Langzeitarbeitslosen nicht mal einen Fernseher gönnt? Ist das nicht linke Utopie? Populär, aber vollkommen an der Realität vorbeigedacht? Natürlich sei ihre Generation „sehr Karriere-orientiert, sehr hedonistisch, vielleicht auch zu unpolitisch. Wir sind eben nicht in so hochpolitisierten Zeiten aufgewachsen wie die 68er. Aber: „Jetzt sind wir an einem Punkt, an dem sich zeigen wird, wozu unsere Generation fähig ist“, sagt die 35-Jährige mit einem Glühen in den Augen.
Andrea Nahles selbst hat sich längst entschieden: Sie will Verantwortung übernehmen: Für die Sozialdemokratie in Deutschland, für das Projekt einer linken europäischen Republik, dafür, dass es mehr Gerechtigkeit gibt in Europa. Frei nach dem Motto: Dieses Europa braucht Veränderung. Und die kommt von links. Von links unten.