„Andere Europas“: Studentenvisionen abseits des EU-Mainstreams
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In Krisenzeiten ist die Frage fast unausweichlich: Gibt es die Möglichkeit Europa auch anders zu denken: ein Europa jenseits der EU, ein Europa jenseits der herrschenden Visionen? Am Institut für Europäische Ethnologie untersuchten Studenten der Humboldt-Universität zu Berlin, was Europa auch außerhalb festgefahrener Denkmuster ausmacht.
Der Halbgrieche Pantelis Pavlakidis ist Teil des Projektes „Andere Europas — Soziale Imaginationen in transnationalen Bewegungen und urbanen Öffentlichkeiten“. Auf cafebabel.com berichtet er, was die Studenten herausgefunden haben.
Cafébabel: „Andere Europas“ — Was bedeutet das?
Pantelis Pavlakidis: In unserem Projekt haben wir nach alternativen Imaginationen von Europa gesucht. Dabei ist der Begriff der Imagination an ein Konzept von Arjun Appadurai [Der Ethnologe wurde in Bombay geboren und lehrt heute in New York – Anm. d. Red.] angelehnt. Er sagt, dass es vor allem durch globale Massenmedien für Menschen weltweit möglich geworden ist, sich andere mögliche Leben vorzustellen, aktiv daran teilzuhaben und somit den eigenen Alltag transnational zu gestalten. Unser Ausgangspunkt war die Stadt – Berlin ganz konkret. Dort haben wir nach alternativen Imaginationen von Europa gesucht und ganz speziell nach Imaginationen von Europa abseits des EU-Mainstreams. Abseits von Slogans wie „Einheit in Vielfalt“ und solche, die man auf der Homepage der EU findet.
Cafébabel: Welches Europabild ergibt sich aus eurem Studienprojekt?
Pantelis Pavlakidis: Beispielsweise gibt es ein Projekt über die erste transnationale Stadt der Welt: Słubfurt. Sie liegt an der ehemaligen EU-Außengrenze zwischen Deutschland und Polen und ist ein Konstrukt aus den Städten Frankfurt Oder (Deutschland) und Słubice (Polen). Der Künstler, Michael Kurzwelly, hat die Stadt 1999 „gegründet“. Er behauptet, dass es diese beiden alten Städte nicht mehr gibt, sondern nur noch eine gemeinsam gefasste Stadt. Somit ist es praktisch die erste Stadt, die tatsächlich in zwei Ländern liegt. Da gibt es allerhand Aktionen: Słubfurter Olympische Spiele, Führungen durch Słubfurt, sogar Słubfurter Personalausweise und Słubfurtisch (eine Sprache, die sich aus deutschen und polnischen Elementen zusammensetzt). Das Projekt kritisiert die fehlende Zusammenarbeit, die fehlende Akzeptanz gegenüber der jeweils anderen Stadt. Vor allem aber den fehlenden Respekt der deutschen Seite gegenüber der polnischen.
Cafébabel: Woran hast du persönlich gearbeitet?
Pantelis Pavlakidis: Mein eigenes Projekt, das ich zusammen mit Maria Hoffmann mache, dreht sich um das postkoloniale Berlin. Auslöser war die NGO Berlin Postkolonial, die im so genannten Afrikanischen Viertel, im Stadtteil Wedding, kolonialkritische Rundgänge anbietet. Ich sage bewusst „so genanntes“ Viertel, weil es auf keiner Straßenkarte verzeichnet ist. Es ist ein tradierter Ausdruck, der sich in den letzten Jahrzehnten im Berliner Sprech festgeschrieben hat. Das ist ein Straßenensemble, bei dem alle Straßen einen Kolonialbezug haben. Die ersten Straßen, die dort 1899 benannt wurden, waren die Togo- und die Kamerunerstraße. Das waren die ersten Kolonien, die Deutschland auf dem afrikanischen Kontinent hatte. 1899 war eine Zeit, zu der es diese Kolonien tatsächlich noch gab. Wir sehen dieses Viertel als Metapher dafür, dass Kolonialismus immer noch präsent ist. Man lässt das gerne unter den Tisch fallen. Im Geschichtsunterricht wird es nicht wirklich behandelt. Und auch sonst herrscht kein Bewusstsein dafür, dass Deutschland Kolonien hatte, wie sehr dieses imperiale, koloniale Projekt sich selbst, das Deutsche Kaiserreich und auch im größeren Rahmen Europa geformt hat.
Cafébabel: Wie stellst du in Deinem Projekt konkret Bezug zu Europa her?
"Europa endet nicht an den Grenzen, die irgendjemand irgendwann mal festgelegt hat. Europa betrifft die ganze Welt."
Pantelis Pavlakidis: Der Kolonialismus wurde zu einem ganz großen Teil auf die europäische Gesellschaft rückgekoppelt: Kolonien wurden ausgebeutet, Rohstoffe abgebaut und nach Europa gebracht. Es gibt den Ausdruck der Kolonien als „Laboratorien der europäischen Moderne“. Herrschaftspraktiken wurden zunächst in Kolonien ausprobiert, bevor sie in Europa Anwendung fanden. Es gibt ein krasses Beispiel: Die ersten KZs wurden nicht erst im zweiten Weltkrieg gebaut, sondern zwischen 1900 und 1905 vom Deutschen Reich in der ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia. Dort wurden im Herero-Krieg KZs gebaut, um Herero vernichten zu können. Es geht ganz klar darum aufzuzeigen, dass „post“ in Postkolonialismus nicht meint, dass der Kolonialismus abgeschlossen ist. Europa endet nicht an den Grenzen, die irgendjemand irgendwann mal festgelegt hat. Europa betrifft die ganze Welt. Aber im Moment tut es sein bestes – vor allem an den Außengrenzen der EU – das nicht zu akzeptieren. Europa ist daran interessiert ein funktionierendes Inneres beizubehalten, was sich ganz massiv von seinem Anderen abgrenzt.
Cafébabel: Welche persönlichen Erfahrungen konntest du im Rahmen des Projekts sammeln?
Pantelis Pavlakidis: Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Kolonialismus im deutschen Diskurs ein absolut vergessenes Kapitel ist, dass zum Beispiel Rassismus und Nationalsozialismus ganz eng damit zusammenhängen. Ich habe gelernt, dass es auf diesem Feld noch unglaublich viel aufzuarbeiten gibt. Es ist auf keinen Fall ein abgeschlossenes Kapitel der deutschen oder europäischen Geschichte.
Cafébabel: Gab es Reaktionen von außen auf Eure Arbeit?
Pantelis Pavlakidis: Im afrikanischen Viertel hat sich eine Bürgerbewegung formiert, die Kolonialismus oder Rassismus herunterspielt. Oftmals gibt es diese deutsche weiße Position, die die Kritik daran nicht versteht und die am Status Quo interessiert ist, in dem Europa – vor allem ein weißes Europa – in der Hierarchie ganz klar über „Afrika“ steht. Afrika wird gerne als ein Teil zusammengefasst. Diese Menschen sind noch immer davon überzeugt, dass es begründete Unterschiede unter den Menschen gibt. Was natürlich totaler Schwachsinn ist. Es ist ein Konfliktfeld, was unglaublich viel Sprengkraft hat.
Illustrationen: Homepage: (cc)familymwr/flickr; Text: ©Maria Hoffmann