Amerika-Mythos: Europäer sind Steuersklaven
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Hélène WallandIn den USA herrscht die gängige Meinung, Europäer seien überbesteuerte Sklaven. Ein genauerer Blick in beide Steuersysteme zeigt, dass dieser Mythos die Amerikaner davon ablenkt, die riesigen Defizite in ihrem eigenen System zu sehen.
Der Tag, an dem in den USA die Einkommensteuererklärung fällig ist, ist eine jährlich wiederkehrende Tragödie! Besonders dieses Jahr, mit den ansteigenden US-Regierungsdefiziten, wird der Ruf - von den Tea-Party-Anhängern über Fox News bis hin zu den Republikanern im Senat - nach einer „starken Regierung“ immer lauter. Erst kürzlich meinte der ehemalige New Yorker Bürgermeister Rudolph Giuliani, dass Präsident Barack Obama die USA in einen europäischen Sozialistaat verwandle. Europa muss in solchen Momenten jeweils den Sündenbock spielen, da in Amerika die allgemeine Meinung gilt, dass die armen Europäer überbesteuerte Sklaven seien. Dieser Mythos aber lenkt die Amerikaner nur davon ab, die enormen Defizite in ihrem eigenen System zu sehen.
Schweden geht mit gutem Beispiel voran
Vor einigen Jahren hat mir ein amerikanischer Bekannter, der in Schweden lebt, erzählt, dass er und seine schwedische Frau durch Zufall eine Limousine in New York City mit einem Südstaaten-Senator und dessen Frau teilten. Der Politiker, ein konservativer Anti-Steuer-Demokrat, fragte spottend nach „all diesen Steuern, die die Schweden zahlen“. Worauf mein Bekannter antwortete: „Das Problem mit den Amerikanern und Steuern ist, dass wir Amerikaner nichts für unsere Steuerzahlungen bekommen“ - das Niveau der Leistungen und Beihilfen erklärend, das den Schweden zur Verfügung steht. Der Rest der Fahrt war wenig überraschend ruhig.
Fakt ist, dass Europäer für ihre Steuern großzügige Beihilfen bekommen, für welche die Amerikaner horrende Summen aus der eigenen Tasche zahlen müssen. In Europa beinhaltet dies qualitative Krankenbetreuung für alle, bei einem kleinen Selbstbeitrag, der vom Einkommen abgezogen wird. Die Durchschnittskosten sind dabei um die Hälfte geringer, als das, was die Amerikaner ausgeben müssen. Während 47 Millionen Amerikaner überhaupt keine Krankenversicherung haben, zahlen die wenigen Versicherten steigende Krankenversicherungsbeiträge und Selbstbehalte. Mit der im März 2010 verabschiedeten amerikanischen Gesundheitsreform sollen jedoch zukünftig 32 Millionen Amerikaner staatlich krankenversichert werden.
Das ist aber nicht alles. Als Gegenleistung zu Steuern haben Europäer ein Recht auf bezahlbare Kinderbetreuung, eine anständige Pension, kostenlosen oder günstigen Universitätszugang, Arbeitsumschulung, bezahlten Krankenurlaub, bezahlten Elternurlaub, ausreichend bezahlte Ferien, bezahlbare Wohnmöglichkeiten, Altenpflege, effiziente öffentliche Verkehrsmittel...
Europa: Mehr Unterstützung für gleichviel Geld
Freunde haben mir erzählt, dass sie fast einhunderttausend Dollar für die Ausbildung ihrer Kinder zusammensparen müssen. Die meisten jungen Amerikaner schließen ihr Hochschulstudium in den Staaten mit einem ordentlichen Schuldenberg ab. Im Gegensatz dazu können die europäischen Jugendlichen gratis oder preisgünstig studieren - auch wenn das von Land zu Land in Europa noch variiert.
Kinderbetreuung kostet für eine Familie mit zwei Kindern in den USA mehr als 12.000 Dollar pro Jahr. In Europa kostet der gleiche Service ein Sechstel, die Betreuung ist im vergleich jedoch besserer Qualität. Außer man ist in den USA Kongressmitglied. Dann nämlich erhält man für sich und seine Familie Unterstützungen. Hinzu kommt, dass Millionen von Amerikanern so viel wie möglich für ihr IRA (Individual Retirement Account) und den Plan 401 k (beides sind Pensionsvorsorgen) zur Seite legen, da die Sozialversicherung nur knapp die Hälfte der notwendigen Rentensumme zahlt. Das großzügigere europäische Pensionsvorsorgesystem bietet je nach Land zwischen 60 - 85 % des letzten Nettoeinkommens.
Amerikas Anteil an Privatfinanzierung für die Altersvorsorge ist im Vergleich zu Europa pro Kopf fast dreimal so hoch, da die Amerikaner einen beachtlichen Teil ihrer Altersvorsorge selbst finanzieren müssen. US-Bürger zahlen zudem mehr Lokal-, nationale Einkommens- und Vermögenssteuer. Die Amerikaner zahlen zusätzlich „versteckte“ Steuern, beispielsweise gibt es jährlich 300 Milliarden Dollar Steuererleichterungen für Firmen, die ihren Angestellten eine Gesundheitsvorsorge bieten.
Die Bilanz? Amerikaner zahlen schlussendlich genausoviel Steuern wie wir Europäer. Aber die armen Amerikaner bekommen bei weitem weniger für ihr Geld. Leider wird diese Komplexität nicht in die simplen Analysen des jährlichen Tax Misery Index des Forbes Magazins einbezogen. Der Tax Misery Index ist eine 'Studie', die gerne zeigt, wie schlecht es den Europäern steuertechnisch geht und wie wenig Amerikaner - fast gleichauf mit Indonesien, Malaysia und den Philippinen - tatsächlich an Steuern zahlen müssen.
Steven Hill ist Autor des Buchs: „Europe's Promise: Why the European Way is the Best Hope in an Insecure Age“ und Direktor des politischen Reformprogramms für die New America Foundation.
Fotos: ©@superamit/flickr
Translated from Happy tax day, Americans: though Europeans get more for their money