Am Rand von Europa - Erasmus in einem konservativen Stadtteil Istanbuls
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Erasmussemester in Istanbul. Nach dem ersten Kulturschock merke ich - es war nur ein kleiner Schreck, eine neue Erfahrung und eine große Bereicherung.
Schon seit dem Beginn meines Politikstudiums 2004 an der Philipps-Universität in Marburg, weiß ich: Nach dem Grundstudium soll es ins Ausland gehen, ein Austauschsemester als Erasmusstudent. Aber nicht nach Spanien, England oder Holland. Ich will ein bisschen weiter weg, ein bisschen exotischer. Wohin? Ich gehe die Liste der Universitäten durch, mit denen Marburg einen Austauschvertrag hat: Zur Auswahl stehen Italien, USA, Kanada, sogar Südafrika. Und ganz unten in der Liste steht: Istanbul. Ich weiß sofort: Da will ich hin.
Zu sechst auf 20 Quadratmetern - das Mädchenwohnheim
Als mein Flugzeug über Istanbul auf dem Atatürk Airport zur Landung ansetzt, bekomme ich kurz Angst. Blitzschnell kommt mir in den Sinn, was jetzt alles schief gehen kann. Immerhin bin ich das erste Mal in der Türkei und ich spreche kein Wort Türkisch. „Dort sprechen sowieso alle Englisch“, hatte mir mein Erasmuskoordinator versprochen. Weit gefehlt.
Im Mädchenstudentenwohnheim angekommen empfangen mich drei Damen aus der Heimadministration. Sie lächeln freundlich und ich bekomme einen starken türkischen Kaffee zu trinken, aber Englisch sprechen sie leider kein Wort. Da mir keine andere Lösung einfällt, unterschreibe ich eine Liste der Wohnheimregeln, ohne deren Inhalt zu verstehen. Das wird wohl in Ordnung gehen, denke ich mir, bis mir später eine andere Studentin aus Estland erklärt, was ich unterschrieben habe: Sperrstunde ist um 20 Uhr, Besuch ist verboten, insbesondere Männer sind strengstens untersagt.
Links zum Weiterlesen:Erasmus in Istanbul - Die Zeit meines Lebens & Erasmus auf dem Catwalk Campus Istanbul
Außerdem wohne ich mit fünf weiteren Mädchen auf einem Zimmer, leider spricht auch hier keine Englisch. Bett an Bett auf 20 Quadratmetern. Besitz und Konsum von Alkohol und Zigaretten wird strengstens geahndet. Das ist nicht, was sich die meisten jungen, europäischen Austauschstudenten von ihrem Erasmussemester erwarten. Mal ehrlich - Erasmus - das steht für ein bisschen studieren in einem anderen Land und sehr viel Party, Party und, genau: Party.
Insbesondere fällt mir auf, dass die jungen Menschen hier - anders als in Deutschland - bis in ihre Zwanziger hinein eine sehr intensive Betreuung durch die Älteren erfahren. Möchte eine Studentin ausgehen oder die Nacht wegbleiben, werden die Eltern informiert. Außerdem gibt es hier so genannte „Ablas“ bzw. „Abi“. Ersteres sind ältere Jungs, ‚Abi‘ ältere Mädels, die jüngeren Studenten als Ansprechpartner dienen, aber auch ein bisschen aufpassen, dass ihre Schützlinge sich in erster Linie der Uni widmen. Dieses System in deutschen Wohnheimen? Absolut undenkbar. Ob das nun gut so ist oder nicht, darüber lässt sich streiten und ich führe mehr als eine hitzige Diskussion darüber, ob und wann junge Menschen „allein“ ins Leben hinaus geschickt werden sollten, wie es in Deutschland für das Studium üblich ist.
Fakt ist aber auch: Einsame, unsichere und oft auch vollkommen überforderte junge Menschen, allein in großen Städten, die ohne ihre gewohntes Umfeld nicht klar kommen und es auch auf lange Zeit nicht schaffen, sich zu integrieren - wie es in Deutschland leider sehr oft vorkommt - habe ich in Istanbul nicht erlebt.
Seminardiskussion mal anders
Während meines Austauschsemesters studiere ich an der Fatih-Universität, einer konservativen Privatuniversität weit ab vom Stadtzentrum Istanbuls. Der große Vorteil gegenüber meiner Uni in Marburg: Die Dozenten nehmen sich sehr viel Zeit und stehen jederzeit für Einzelgespräche zur Verfügung. Und was ich in Deutschland nie erwarten könnte: Mit den Professoren entwickeln sich hier schnell Freundschaften, man trinkt zusammen Kaffee, kennt und nennt sich beim Vornamen. Da bleibt viel Zeit für Diskussionen, über Politik zum Beispiel - und das um einiges kontroverser als von zu Hause gewöhnt.
Beim Plausch mit einem promovierten Politologen prallen schon mal die Weltbilder aufeinander: „Warum Demokratie? Eine Militärdiktatur könne die staatlichen Angelegenheiten doch viel besser regeln“ - belehrt mich ein Politikdozent der Istanbul Universität. Meine erste Reaktion ist Sprachlosigkeit, dann Wut. Schließlich versuche ich mit Argumenten zu überzeugen - manchmal mit Erfolg, meistens weniger - und auch das lerne ich irgendwann zu verstehen. Heute sind wir Freunde, wir sprechen beim Tee dann eben über den neuesten Tratsch.
Und doch empfinde ich solche Streitgespräche im Nachhinein als unendlich wertvoll. Ich lerne meine Argumente und Standpunkte von ihrem Fundament aus zu erklären. „Warum soll Volkssouveränität denn so gut sein?“ In Istanbul lernte ich mein Weltbild selbst zu hinterfragen und Schlagworte wie „Demokratie“ und „Menschenrechte“ nicht als Universalziel vorauszusetzen. „Das Militär hat in der Türkei immer für Frieden und Stabilität gesorgt“, so das Argument meines Dozenten. „Und wenn einem Land ein Bürgerkrieg droht, dann haben diese Ziele erst einmal Priorität.“ Dabei fiel mir auf, dass meine Ideen von Richtig und Falsch zu einem erschreckend hohen Grad auf meine eigene kleine Welt gemünzt sind. Es gibt eben nicht nur eine Lösung - und Wahrheiten sind wohl auch immer nur Resultate von Ausgangsituation und können also weder absolut noch universell anwendbar sein. Schade eigentlich.
Istanbul: Islam und Atatürk
Bis zu 17 Millionen Einwohner leben in der türkischen Metropole. In dieser Menschenmasse spiegelt sich die gesellschaftliche Heterogenität der Türkei wider. Hier gibt es alles: Im Stadtzentrum zum Beispiel tobt das Leben. Alkohol auf der Straße ist erlaubt, Transvestiten sitzen im Starbucks, türkische Mädchen im Mini - „hier ist es europäischer als in Europa“ witzeln die Türken über die Partymeile in Taksim, im Herzen von Istanbul. Die Menschen hier glauben an die Maxime des türkischen Staatsgründers Atatürk: die Ausrichtung der Türkei gen Westen für Wohlstand und Modernität. Die Leute, die ich auf der Straße treffe, halten den Islam für „überholt“, europäisch ist „in“.
Ich setze mich in einen Bus und fahre eine Stunde gen Osten. Hier bietet sich ein vollständig anderes Istanbul. Dort reiht sich Hochhaus an Hochhaus so weit das Auge reicht, dort erstrecken sich die Wohnkomplexe der türkischen Mittelschicht. Hier erklärt mir ein Türke, dass arrangiere Ehen die besseren Ehen sind und Frauen zu sensibel seien für die Welt vor der Haustür. Überhaupt sind Frauen hier kaum auf der Straße zu sehen, und wenn, dann verhüllt, obwohl Kopftücher in öffentlichen Gebäuden verboten sind.
In Istanbul haben die Türkinnen aber einen Trick, um ihre Haare trotzdem zu bedecken: Das Kopftuch bleibt an, aber darüber tragen sie eine Perücke. Das sieht oft sehr seltsam aus, ist aber allgemein akzeptiert. Auch ansonsten werden Frauen mit sehr viel Respekt behandelt. Im Bus gehen freie Plätze immer an weibliche Mitfahrer und manchmal bleibt auch der Sitz daneben frei. Hier unterwegs mit meinem Kommilitonen, beim Bummeln oder Ausgehen sieht mir kein Mann in die Augen oder spricht mich an. Den Kellner, der uns ein Eis serviert, will ich freundlich anlächeln - werde aber vollständig ignoriert. Das erste Mal ist das seltsam und ich bin ein bisschen verletzt. Aber als ich verstehe, dass die Nichtbeachtung einer Frau ein Zeichen von Respekt darstellt, sehe ich das anders. Es fühlt sich sogar eigentlich ganz gut an.
Ein Erasmussemester in Istanbul ist eine unwahrscheinlich bereichernde Erfahrung. Man sollte sich auf ein wenig Anpassungsfähigkeit einstellen, aber für mich ist klar - Istanbul muss ich wieder sehen. Und zwar nächstes Jahr schon, dann nämlich schreibe ich dort meine Magisterarbeit über islamische Einflüsse in der türkischen Innenpolitik - und das geht am besten vor Ort.
Fotos: ©Leif/flickr; ©Objektivist/flickr; ©boublis/flickr; Video ©justuur/Youtube