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Alter Geist in neuen Medien

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Der Streit zwischen EU-Kommission und jüdischem Weltkongress ist beigelegt, doch es bleibt ein bitterer Nachgeschmack. Gibt es einen „neuen“ Antisemitismus in Europa? Ein Blick auf die Fakten.

Ein Gespenst geht um in Europa. Es ist das alte Gespenst des Antisemitismus. Seit dem Ausbruch der Al-Aksa Intifada im Oktober 2000, den Anschlägen auf das World Trade Center und der Eskalation des Nahost-Konflikts nehmen nicht nur antisemitische Gewalttaten, sondern auch die öffentlichen Auseinandersetzungen zwischen jüdischen Organisationen und Politikern zu. So beschuldigten am 5. Januar der Präsident des jüdischen Weltkongresses, Edgar M. Bronfman und der Präsident des europäischen Kongresses, Cobi Benatoff, die EU-Kommission der passiven und aktiven Beihilfe zum Antisemitismus. Was war geschehen? Bereits im November 2003 wurden die Ergebnisse einer Umfrage bekannt, in der 59% der EU-Bürger erklärten, von Israel gehe eine Bedrohung für den Weltfrieden aus. Kein anderer Staat, nicht einmal Libyen oder Nordkorea, erreichten eine so hohe Prozentzahl. Nach der palästinensischen Autonomiebehörde war erst gar nicht gefragt worden. Und dann wurde noch zu Beginn dieses Jahres bekannt, dass die EU-Kommission eine Studie „zensiert“ habe, in der ein „neuer Antisemitismus“ in Europa diagnostiziert werde.

Was ist los in Europa? Gibt es nicht nur einen offensichtlichen Antisemitismus einer extremen Minderheit, sondern vielleicht einen heimlichen Antisemitismus der schweigenden Mehrheit?

Ein „neuer“ Antisemitismus?

Bei soviel Aufregung lohnt ein nüchterner Blick auf die Fakten. Die erste Frage, ob die EU-Kommission antisemitisch ist, ist schnell beantwortet. Die Studie wurde nämlich nicht von der Kommission, sondern vom European Monitoring Centre on Racism and Xenophobia (EUMC) in Auftrag gegeben. Doch die Zusammenarbeit mit dem beauftragten Institut, dem Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung, klappte nicht. Den Berliner Forschern wurde vom EUMC nur Material für einen viel zu kurzen Zeitraum, dem 15. Mai bis zum 15. Juni 2002 zur Verfügung gestellt, weshalb sich die Wissenschaftler gezwungen sahen, Fakten für die Zeit davor und danach selbst zusammenzutragen. Dass dadurch keine fundierte Studierte über Antisemitismus in Europa zustande kommen konnte, ist offensichtlich. Ob der Entschluss, die Studie zu zensieren, ein politischer war, ist unklar. Tatsächlich ist das EUMC von der Kommission unabhängig, wird jedoch von ihr finanziert. Doch der Kommission deshalb „Zensur“ oder gar Antisemitismus vorzuwerfen, ist Unsinn, zumal das EUMC seinen Fehler bemerkt und sich dazu entschlossen hat, eine neue, umfassende Studie in Auftrag zu geben.

Auch ein Blick in die Studie bestätigt die Behauptung, es gebe einen „neuen Antisemitismus“ in Europa, nur teilweise. Eigentlich ist der Bericht in dieser Hinsicht sehr vorsichtig. Hysterie verbreitet er keineswegs. Was offensichtlichen Antisemitismus angeht, also Brandanschläge gegen jüdische Einrichtungen, sowie verbale und physische Gewalt gegen Juden, konstatiert der Bericht seit Beginn der zweiten Intifada einen klaren Anstieg, der im Frühjahr 2002, als sich der Nahostkonflikt deutlich verschärfte, seinen Höhepunkt erreichte. So steckten etwa in Brüssel am 17. April Unbekannte einen jüdischen Buchladen in Brand, nur drei Tage später wurden auf die Synagoge in Charleroi 18 Schüsse abgefeuert. Ein Anstieg ähnlicher Gewalttaten wurden auch aus anderen EU-Ländern berichtet. Doch die Studie sagt ausdrücklich, dass die Gewalttaten danach wieder zurückgingen und es in Europa auch schon früher solche Wellen antisemitischer Gewalt gegeben hätte, und zwar immer in den Zeiten, in der der Arabisch-Israelische Konflikt eskalierte, also 1963, 1972 und vor allem 1982. Also doch kein „neuer“ Antisemitismus in Europa?

So einfach ist es nicht. Denn der EUMC-Bericht zeigt auch, dass junge Muslime in Europa zunehmend antisemitischem Gedankengut verfallen und dass dies auch immer öfter zu Gewalttaten führt. Vor allem in Frankreich, wo 600.000 Juden und 5 Millionen Muslime leben, kommt es in den Pariser Banlieues verstärkt zu Zusammenstössen. Die politische Sozialisation der muslimischen Minderheit, selbst Opfer von Rassismus und Benachteiligung, fokussiert sich mehr und mehr auf die Theorie, dass sich eine amerikanisch-jüdische Weltmacht gegen die arabische Welt verschwöre. Hier entsteht in der Tat mitten in Europa ein gefährlicher Brandherd.

Die Rolle der Medien

Neu ist am Antisemitismus auch seine Verbreitung. Das Internet ist heute der erste Weg, den Rechtsradikale und islamistische Fundamentalisten beschreiten, um antisemitisches Gedankengut zu verbreiten. Aber auch etablierte Medien sind nicht frei davon. Etwa die italienische „La Stampa“, die am 3. April 2002 auf der Titelseite eine Karikatur abdruckte, auf der Jesu, in der Krippe liegend, ängstlich fragte: „Werden sie mich ein zweites Mal töten?“

Ein Einzelfall? Sicher. Aber auch andere angesehene Tageszeitungen legen die Dinge oft holzschnittartig dar. Ein gutes Beispiel ist hier „El Pais“, das am 24. Mai 2001 eine Karikatur veröffentliche, auf der ein langnasiger Jude mit Israel-Flagge verkündet: „Wir sind das Volk, das dazu auserwählt wurde, Waffen zu produzieren.“ Wenn das Volk Israel, seine historischen Wurzeln und Traditionen, mit der Politik seiner Regierung gleichgesetzt wird, so geht damit ein Unterschied verloren, der dem Antisemitismus Nährboden bietet. Die Juden sind nicht gleich Israel und Sharon ist auch nicht der israelische Staat. Israel hat nicht nur einen Sharon, sondern auch einen Rabin hervorgebracht. Auch geht in der Kurzatmigkeit heutiger Berichterstattung die historische Dimension des Konflikts und damit auch die Tatsache verloren, dass sich Israel im Lauf seiner Geschichte bis an die Zähne bewaffnen musste, um überleben zu können. Sharon wird zum Feindbild stilisiert, weil so ein einfaches, verständliches Bild vermittelt wird. Unsere Medien sind nicht antisemitisch, aber der Zeitdruck ist groß, die Berichterstattung oft oberflächlich. Dass dadurch Israel als eine Bedrohung für den Weltfrieden erscheint, kann nicht verwundern.

Dinge gründlich zu recherchieren und ausführlich darzustellen, läuft den Gesetzen der heutigen Medienlandschaft zuwider. Aber ein fundierter Journalismus ist unerlässlich und gerade in aufgeregten Zeiten das beste Gegenmittel, dem Gespenst des Antisemitismus zu begegnen.