Alte Angst in neuem Gewand
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Der radikale Islamismus beschwört in Europa die Angst vor der multikulturellen Gesellschaft. Doch dahinter steckt nur die alte Angst vor den Fremden. Der Integration wird dadurch nicht geholfen.
Die Bedrohung der pluralistischen Gesellschaft und des demokratischen Systems durch den radikalen Islamismus - sei sie nun real oder eingebildet – hat die politische Debatte in Europa verändert. Bisher galt die Forderung, Migranten müssten sich der Kultur ihres Aufnahmelandes anpassen, als Ausdruck eines überholten Nationalismus. Doch nun findet sie neuen Zuspruch. Es sehen sich all jene bestätigt, die schon immer in der multikulturelle Gesellschaft nicht mehr als die naive Idee wohlmeinender Linker sahen.
Diskussion um Parallelgesellschaften
Die Reaktion auf die Bombenanschläge islamistischer Terroristen in Madrid im März 2004 war noch relativ besonnen. In den Anschlägen sahen viele vor allem die Folge des Irak-Krieges, den die Mehrheit der Bevölkerung ohnehin ablehnte. Der Mord an dem niederländischen Filmregisseur Theo van Gogh durch einen Islamisten im November 2004 löste in den Niederlanden jedoch eine tiefe Krise aus. Die einst so liberalen Niederlande sahen das ganze Konzept einer multikulturellen Gesellschaft in Frage gestellt.
Die Anschläge auf Busse und U-Bahnen in der Londoner Innenstadt im Juli 2005 versetzten auch Großbritannien in Schrecken und verschafften der Debatte um unkontrollierbare „Parallelgesellschaften“ neuen Aufwind. Dies führte nicht nur zu härteren Anti-Terror-Maßnahmen, sondern veränderte auch den Umgang mit Kleinkriminalität, wie es die „Respect“-Kampagne im Januar 2006 zeigte. Die weltweiten Proteste gegen die Veröffentlichung einer Reihe von Mohammed-Karikaturen in einer rechtskonservativen dänischen Zeitung in den vergangenen Wochen schließlich bestärkten in ganz Europa Verfechter der These eines grundsätzlichen Gegensatzes der Kulturen.
Der Mord an einer Berliner Türkin durch ihre Brüder im Winter 2004 und die Unruhen in den Pariser Vorstädten im Herbst 2005 lösten eine begründete Debatte über die Zustände in den Einwanderergemeinden aus. Doch die Angst vor dem Islam wurde dadurch noch verstärkt. Dabei begründete sich der Mord in Berlin nicht aus dem Islam sondern aus einem archaischen Ehrkonzept. Und auch die Unruhen in Paris hatten mehr sozio-politische als religiöse Ursachen.
Ausgrenzung durch Stigmatisierung
Heute ist es nicht mehr nur die radikale Rechte, sondern auch gemäßigt konservative Parteien, die von den Migranten verlangen, sich der einheimischen Kultur anzupassen, ja sogar zu „assimilieren“. Diese Kultur zu definieren, fällt jedoch nicht immer leicht. In Deutschland wurde im Jahr 2000 ergebnislos über den Begriff der „Leitkultur“ diskutiert. Der britische Versuch im Sommer 2005, sich auf gemeinsame Werte zu einigen, die man den Einwanderern als britische Kultur empfehlen könnte, führte ebenfalls nicht weit. Länder wie Belgien oder Spanien, wo die Debatte um die Definition einer nationalen Kultur sofort zu Streit zwischen den Regionen führen würde, ließen lieber gleich die Finger davon.
Nun ist die Integration der Migranten tatsächlich ein drängendes Problem und das Aufkommen des radikalen Islamismus eine ernsthafte Gefahr. Doch die Stigmatisierung der Muslime birgt die Gefahr ihrer weiteren Ausgrenzung. Die von Medien und Politikern betriebene Konstruktion des Islam als einer mit den westlichen Werten unvereinbaren Kultur und die Forderung nach Assimilation an die wie auch immer geartete westliche Zivilisation hilft nicht der Integration. Denn es wirft die Migranten auf die eigene Kultur zurück und bestärkt sie in der Idee, weder gewollt zu sein, noch hierher zu passen.
Die Front National in Frankreich, der Vlaams Belang in Belgien, die Liga Nord in Italien und all die anderen rechtsradikalen Parteien in Europa haben bereits gegen Ausländer polemisiert, als bis auf eine Handvoll Islamwissenschaftler noch niemand etwas mit dem Begriff Islamismus anzufangen wusste. Der Islamismus dient diesen Parteien dazu, die Ablehnung der Ausländer zu rechtfertigen. Hinter der Angst vor dem Islam steckt die alte Angst vor allem Fremden, das man fürchtet, weil man es nicht versteht, und weil es die eigenen Gewohnheiten und Gewissheiten in Frage stellt.
Keine Alternative zur multikulturellen Gesellschaft
Verstärkt wird die Angst vor den Ausländern noch durch die schlechte Wirtschaftslage und die hohe Arbeitslosigkeit. Der Zusammenbruch ganzer Wirtschaftszweige in Folge der Globalisierung hat viele Menschen in die Erwerbslosigkeit gebracht. Es fühlen sich gerade jene bedroht, die innerhalb der Gesellschaft bereits an den Rand gedrängt wurden. Die Migranten erscheinen in dieser Lage als weitere Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt und als Bedrohung der ohnehin instabilen Identität.
In diesem Kontext stärkt das Schüren von Ängsten vor dem Islam und den Muslimen die Ablehnung der Migranten und gefährdet ihre Integration. Es muss klar sein, dass die Toleranz vor dem Anderen nicht die Duldung von Gewalt oder die Verletzung der Menschenrechte einschließt. Auch nicht jede andere Praxis, die mit Kultur oder Religion gerechtfertigt wird, muss kommentarlos akzeptiert werden. Doch die Idee, es gäbe eine Alternative zur offenen, multikulturellen Gesellschaft führt in eine Sackgasse. Denn die multikulturelle Gesellschaft ist keineswegs eine Idee, sondern eine Realität, mit der man leben muss.