Als die Welle die Medien verschluckte
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karolin schapsSie wissen nicht was "Tsunami" bedeutet? Dann haben Sie wohl die Feiertage auf dem Mond verbracht – die einzige Möglichkeit, der Über-Mediatisierung der "größten Umweltkatastrophe des Jahrhunderts" entkommen zu sein.
„Sänger Ricky Martin wird diese Woche die vom Tsunami verwüsteten Regionen besuchen“ lautet die Nachricht, die uns Associated Press taufrisch beschert. In den Redaktionen fragt man sich: Ist diese Neuigkeit einen Aufmacher wert? Vielleicht wäre die Story über die Rettung zweier Delphine (einer von ihnen ist bereits gestorben), die die Jahrhundertwelle in einen See gespült hat, doch angemessener? Die Retter tun ihr bestes, denn "es hat schon so viele Tote gegeben, dass jedes Leben zählt, auch wenn es nur ein Delphin ist", meint ein redlicher indonesischer Fischer, der am 4. Januar in den Abendnachrichten zu sehen war.
303 Artikel: Volle Ladung Tsunami
Sie finden diese Informationen grotesk? Leider sind sie wahr. Sie verdeutlichen aufs anschaulichste die ununterbrochene Flut an Informationen, die innerhalb der letzten fünfzehn Tage auf Europa und die ganze Welt eingebrochen ist: Ein Wechselbad zwischen Erfreulichem und Schrecklichem, zwischen der sanften Reportage über den berechtigten Schmerz der Familien und einer gefilmten Tragik an der Grenze des Erträglichen; beeindruckende Bilder des entfesselten Meeres, die jeden Tag in neuen Versionen wieder aufgewärmt werden; politische und wirtschaftliche Analysen (wenn auch knapp und spät) und Serien pathetischer Anekdoten…
Das soll nicht heißen, dass die Medien zu viel über die Katastrophe berichtet haben (auch wenn 303 Artikel und neun Titelgeschichten in zwölf Ausgaben - das heißt ein Durchschnitt von 25 Artikeln pro Ausgabe – in einer und derselben Zeitung - Le Monde doch Zweifel darüber aufkommen lassen), sondern dass sie über das Thema vor allem schlecht berichtet haben. Unsere Medien haben sich auf die europäischen Opfer der Katastrophe konzentriert, auf Phuket, das Ferienparadies der Europäer, auf die Schmerzen der Opfer und ihrer Familien und die Armut der lokalen Bevölkerungen…Mit welcher Absicht? Es gibt zwei extreme Antworten zu diesem Thema: Angesichts „des Ausmaßes der Katastrophe“ – um die abgegriffene Medienformel zu verwenden - wollten die ergriffenen Redakteure mit der Welt den Schmerz der Opfer und der Zeugen teilen. Oder die zynischere Sichtweise: Ist die Zeit „zwischen den Jahren“ normalerweise ein Informationsloch, war das Desaster ein gefundenes Fressen für die Redaktionen, sogar eines, das die Welt erschüttert. Die Politiker gingen darauf ein und sprachen von der "größten Naturkatastrophe in der jüngeren Geschichte der Menschheit" (Gerhard Schröder). Also bedient man die Öffentlichkeit satt mit den Geschehnissen, wärmt es wieder und wieder auf und macht am Ende ein "Tsunami-Spezial" daraus, um die Sendungen und die Zuschauerzahlen zu vervielfachen…
Die Wahrheit liegt zweifellos in der Mitte: Die Medienmaschine ist heiß gelaufen mit der ersten legitimen Erregung und befindet sich seither unter dem Dampf des Mitgefühls und der Solidaritätsbekundungen, die sie selbst hervorgebracht hat, im täglichen Flirt mit dem kollektiven Pathos.
... und Birma?
Aber die Über-Mediatisierung hat nicht nur schlechte Seiten: Die gesammelten Spenden, die Aufmerksamkeit des gesamten Planeten, ein besseres Verständnis der Region und die globale Solidarität sind positive Konsequenzen im Angesicht des Unglücks.
Trotzdem ist es schade, dass das Katastrophen-Spektakel wieder einmal den kritischen Blickwinkel erdrückt hat. Mit dem Fokus auf die Tragik haben die Medien sicherlich den ganzen Planeten erreicht, aber sie haben wichtige Informationen übergangen, vor Ort oder anderswo in der Welt: Anstelle der vielen Reportagen über das verlorene Paradies von Phuket oder die Massengräber hätte man auch gerne etwas über Birma gehört, das mit seiner blutigen Diktatur wundersamerweise von der Gefahr verschont geblieben ist, ob diese nun vom Wasser oder den Medien drohte.
Translated from Des médias emportés par la vague