Alina Orlova: Indie-Atom aus Litauen
Published on
Translation by:
Dorothee Maria BaumannIm Schatten eines Atomkraftwerks in Vilnius erblickte ein künstlerisches Atom das Licht der Welt. Nein, es handelt sich nicht um eine Mutation, sondern um eine musikalische „Eisbombe“ im Alter von 23 Jahren. Ein atomares Treffen mit Alina Orlova.
Wenn man im Schatten eines Atomkraftwerks aufwächst, hinterlässt das Spuren. Das würden zumindest die deutschen und französischen Grünen sagen. Es ist die Stunde der Angst vor den Kraftwerken. Aber für die Litauerin Alina Orlova (Label Fargo) ist es vor allem die unerlässliche Voraussetzung eines vollen Magens und eines Dachs über dem Kopf: Ihr Vater arbeitet im Kraftwerk von Ignalinas, dessen Stopp die EU als Gegenleistung für das Eintrittsticket in ihren begehrten Club forderte und das nun von mehr und mehr geizigen französischen und deutschen Croupiers betrieben wird. In Visaginas, der Retortenstadt außerhalb des Kraftwerks, war Alina ein Atom wie viele andere auch.
„Du musst etwas tun“
„Dort ist es so gar nicht schön, aber interessant oder bizarr. Man findet noch Überbleibsel der Sowjetunion, dieser Utopie, die sich nicht realisieren ließ.“ Alina wurde wehmütig, aber durchaus kreativ. „Ich las und malte sehr viel. Dann fing ich an Gedichte zu schreiben und Lieder zu singen. Auf meine Art. In dieser Sorte Kleinstadt gibt es nicht viel zu tun. Ok, du kannst trinken und mit deinen Kumpels rumhängen, aber wenn dir das nicht viel bedeutet, dann musst du irgendetwas tun.“
Die Explosion lässt sich also nicht auf den Kontakt mit der bekannten lokalen Biersorte Svyturys zurückführen. Alina hat sich anderen Atomen zugewandt, die in der schwer greifbaren Kategorie „Kunst“ einzuordnen waren. Der erste Funke war während ihrer klassischen Klavierstunden gesprungen, ein anderer dann im Alter von 13 Jahren, als ihre Elten einen Plattenspieler mit nach Hause brachten.
Ziemlich schnell entfacht sich das musikalische Feuer, das unter Alinas goldener Mähne brennt. Vielleicht auch aufgrund des ständigen Kontakts zu ihrem Vater und seinen Kollegen aus dem Atomkraftwerk. „Nach und nach wollte ich meine eigenen Gefühle ausdrücken, von denen ich in dieser Zeit eine Menge hatte. Ich sang vor Freunden und postete Gedichte und Lieder auf litauischen Webseiten wie dpoezija. Dank des Internets lernte ich auch mehr Leute in Vilnius kennen. Aber in Visaginas gab es nichts, womit ich ich eine Demo aufnehmen konnte. Sie haben mir angeboten für Aufnahmen zu kommen, denn sie mochten meine Stücke. Ich habe eingewilligt. Dann habe ich nach und nach angefangen, Konzerte in kleinen Sälen zu geben.“
Zu spät – die Kernreaktion ist bereits in vollem Gange. Nach der Kontaktaufnahme zu Lauras Luciunas, Künstlermanager in Vilnius, bildet sich ein vollkommen neuer musikalischer Kern heraus, der das erste Album mit dem Titel Laukinis Suo Dingo im April 2010 zur Folge hat.
Auf einem Sofa inmitten einer großen kalten Halle – genau das Gegenteil von dem Saal, in dem Alina und ihre drei Musikerfreunde in eineinhalb Stunden in Kaunas, der zweitgrößten Stadt Litauens auftreten werden – fällt es dem aufstrebenden Sternchen der baltischen Indie-Szene schwer zu den Fakten zurück zu kehren, zu stark und unvorhergesehen war der Aufstieg: „Musik-Labels begannen, wie man so schön sagt, mich zu fragen, ob ich nicht aufnehmen und meine Musik herausbringen wollte. Ich hatte Angst mich blöd anzustellen, nicht obenauf zu sein, dennoch willigte ich ein. Wir fingen an. Dann haben wir es einfach aufgenommen.“
Es verwundert nicht, dass Alina die passenden Worte fehlen. Der Lockenkopf mit dem sanften, verträumten Blick, der an den Ärmeln des türkisfarbenen Pullis herumzupft ist nur der Kern der Atomreaktion. Außen herum hören die Elektronen nicht auf zu tanzen und herumzuwirbeln. Sie wirft ihnen teils besorgte, teils lächelnde Blicke zu: Es handelt sich um ihre Liebe zum Design, ihre Leidenschaft für Wörter, ihre Berührung der Klaviertasten und ihre klaren Stimmbänder, die große Höhen anstreben.
Die Kettenreaktion ließ sich auch außerhalb von Litauen nicht mehr aufhalten: Nachdem das einflussreiche französische Kulturmagazin Les Inrockuptibles Alina als "bombe glacée" ('Eisbombe') bezeichnete, kommt kurz darauf auch der Durchbruch in England und Russland, sodass sie im Mai 2011 ein neues Album mit dem Titel Mutabor herausbringt, auf dem sie ebenfalls in diesen beiden Sprachen singt. Producer Lauras Luciuas wird Zeuge von der Schwierigkeit, die Energie seines Zöglings in Schach zu halten: „In Russland gibt es während eines Konzerts einen zehn mal höheren Erwartungsdruck als auf zehn Konzerten in Frankreich zusammen.“
Die Geschichte des Mammuts
"In Russland gibt es während eines Konzerts einen zehn mal höheren Erwartungsdruck als auf zehn Konzerten in Frankreich zusammen.“
Sind die Russen auf ihren kleinen litauischen Nachbarn eifersüchtig, dem es gelang ein freischwebendes Atom zu finden, das in so kurzer Zeit so viele Hörer erreichen konnte? Wie in jeder chemischen Reaktion liegt das Geheimnis in der richtigen Mischung. In Gargaras, einer zur Konzerthalte umgebauten ehemaligen Rauchwaren-Fabrik, sind russische Spione eingetroffen, um jedes Zeichen, das ihnen dabei helfen könnte, dieses Wunder zu entschlüsseln, auszuspähen. Sie wurden nicht enttäuscht. Alina begann, ihre feurigen Haare auf einem ebenfalls in Bewegung geratenen Körper zu balancieren; der Violonist an ihrer Seite begann die Lieder mit zu summen. Dann war es an der Zeit für die Fotografen und das Publikum in diese Stimmung einzutauchen.
Zusammen sangen sie die Geschichte des letzten Mammuts, dessen wahre Trauer nur Gott kennt und das so gerne sterben würde, melancholisch beim Anblick der Skelette seiner im Museum ausgestellten Verwandten. Dann die Erzählung von dieser Gesellschaft ohne Krieg, brüderlich und glücklich, die man von der Erde aus sehen kann und die auf dem Mond lebt. Und viele weitere Geschichten, die den Gedichten Alinas entnommen und in lakonische und mitreißende Musikstücke umgesetzt wurden. Die Stimmung erinnert dabei an Björk, die Nachbarin aus dem Norden, und Regina Spektor, die Nachbarin aus dem Westen. Bis zum Mond, so wird von Zeugen berichtet, wurden selbst die Sterne von der Kernexplosion mitgerissen, die einst von einem einfachen, schüchternen und lächelnden Kern, von einem litauischen, freischwebenden Atom im Alter von 23 Jahren ausging.
Illustrationen: Fotos ©Offizielle myspace-Seite Alina Orlova; Videos (cc)YouTube
Translated from Alina Orlova, l’atome libre de la scène indé’ lituanienne