Alberto Toscano: "In Bezug auf Carla Bruni hat Sarkozy mich beim Wort genommen"
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Nele YangDer 61-jährige italienische Politikjournalist und Polemiker lebt seit mehr als zwanzig Jahren in Frankreich und fragt sich, ob er dem französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy den literarischen Impuls gegeben hat, eine italienische Schmachtsängerin zu heiraten.
Während seiner Promotiontour für sein neues Buch erklärt sich Alberto Toscano bereit, mich am Platz George Brassens im 15. Arrondissement von Paris zu treffen, um über sein Berufsleben zu reden und darüber, was ihn dazu veranlasst hat, ein ziemlich aufschlussreiches Buch über das Selbstbild der Franzosen zu schreiben. Ein Auto hält am Straßenrand und der Journalist und Schriftsteller steigt aus, ein Wirbelwind der Begeisterung für die Literatur. Wir arbeiten uns durch viele Exemplare seiner Bücher und durch einige Flaschen Wein. Nach unserem Treffen signiert er gern ein paar Bücher am Schnäppchen-Stand befreundeter Buchverkäufer.
Toscanos besondere Beziehung zu Frankreich gründet auf einer Anzahl von Schlüsseldaten. Geboren 1948, wurde er im Jahre 1968 zwanzig Jahre alt. Als Student in Mailand wurde er in der 1968er-Revolution aktiv, im Namen des Protests und der Unterstützung von Freiheit und Leichtsinn. Alberto Toscano reiste mehrmals nach Frankreich; 1977 verbrachte er ein Jahr am CFPL (Studienzentrum für Presse und Journalistik) in Paris. Einer seiner Kursleiter war Hubert Beuve-Méry, der Begründer der Tageszeitung Le Monde. 1981 kehrte Toscano erneut nach Frankreich zurück, um über die Präsidentschaftswahlen zu berichten. Er traf Schlüsselfiguren wie den ehemaligen Präsidenten der Europäischen Kommission Jacques Delors und den französischen Politiker Pierre Mendès-France. Letzterer starb 1982 und Toscano war einer der letzten, die ihn vor seinem Tod interviewten - darauf ist er heute stolz.
1986 zog Toscano für immer nach Frankreich - oder zumindest fast für immer, denn sein Motto lautet: „Das Leben ist so vielfältig, dass nichts sicher ist.“ Erst war er Korrespondent für ein italienisches Finanztageblatt, später schrieb er Sendungen für ein breites Spektrum italienischer und französischer Sender (darunter TV5, France Culture, RTL und La Croix).
Der “Sonderfranzose”
2006 hatte Alberto Toscano bereits sein Buch France Italie: Coups de tête, coups de cœur (etwa: "Frankreich - Italien: Von Kopfstößen und Herzklopfen", erschienen bei Tallandier 2006; A.d.R.) geschrieben. Drei Jahre später sorgte er erneut für Verärgerung, mit Critique amoureuse des Français (etwa: „Liebevolle Kritik der Franzosen“, erschienen bei Hachette 2009; A.d.R.). Während er in seinem ersten Werk aus Sicht eines in Frankreich lebenden Italieners seine persönlichen Ansichten bespricht, handelt sein neues Werk von den Klischeevorstellungen, welche die Franzosen von sich selbst haben.
Die Franzosen müssen immer beweisen, dass sie total 'außergewöhnlich' sind.
Die ernsten und amüsanten 48 Kapitel sind das Produkt sorgfältiger Recherche. „Mein Schreibstil will den Leser unterhalten, aber gleichzeitig will ich eine Nachricht vermitteln,“ stellt Toscano klar. Er weist auf eine bestimmte Textstelle in dem Buchexemplar hin, was er für mich signiert; seine Doppelperspektive, sowohl polemisch als auch liebevoll, schafft den ihm eigenen Ton. „Die Franzosen leiden oft an einem angestammten (und völlig unnützen) Bedürfnis, sich sowohl gegenüber sich selbst als auch gegenüber anderen zu beweisen. Sie müssen beweisen, dass sie total 'außergewöhnlich' sind. Meiner Meinung nach werden sie ein ganzes Stück glücklicher sein, wenn sie sich erst einmal von dem Bedürfnis befreit haben, ‚normal’ sein zu müssen; genauso wie jeder andere Mensch in Europa oder dem Rest der Welt.“
Toscano meint, die Franzosen “haben eine Menge Komplimente bekommen. Aber zu ihrem Unglück verspüren sie immer das Bedürfnis, sich mit den Besten zu messen und belasten sich selbst mit dieser Aufgabe, anstatt sich über die Komplimente zu freuen.” Diese Geisteshaltung, die auf der anderen Seite der Alpen nicht existiert, zeigt einen Sinn für Ehrgeiz, gleichzeitig aber auch ein mangelndes Selbstbewusstsein.
„Das älteste Kind der Kirche speist bestimmte gefährliche und nutzlose Nostalgiegefühle, welche Politiker in ihren Reden instrumentalisieren. Es ist, als befände es [Frankreich] sich auf dem Weg bergab.“ So etwas verärgert Toscano. „Bergab in welcher Beziehung? In Bezug auf das Kolonialreich, aber ist es nicht besser die Art von Folter verdammt zu haben, derer man im alten Französisch-Algerien Zeuge wurde? Wir vergessen, dass vor der Kolonialzeit die Einwanderung vornehmlich aus Europa kam.“ Toscano informiert auch darüber, dass ein Viertel aller Franzosen italienische Blutsverwandtschaft habe und dass das französische Nationalinstrument, das Akkordeon, im 19. Jahrhundert von Einwanderern aus Bergamo nach Frankreich gebracht wurde.
Zwischen den zwei romanischen Schwestern besteht eine Art Hassliebe. In seinem ersten Buch kommt Toscano zu dem Schluss: „Lasst sie uns verheiraten.“ Er bemerkt, er wisse nicht, ob er zu dem richtigen Schluss gekommen sei: „Ich dachte nicht, dass eine italienische Sängerin und Model, Carla Bruni, die Ehefrau des Präsidenten der Französischen Republik werden würde. Wie es scheint, hat Nicolas Sarkozy mich beim Wort genommen.“
Verliebt in Europa
Als überzeugter Europäer, der sich selbst “Europäist” nennt, glaubt Toscano, dass die Europawahlen am 4.-7. Juni 2009 in einem Kontext abgehalten werden, der nicht gerade ideal ist. Er meint, „die europäischen Institutionen, genauer gesagt das Europäische Parlament, werden als zweitrangig angesehen und nicht als eine Machtposition. Das sieht man an den politischen Schwergewichten, die nicht [für das Europäische Parlament] kandidieren oder es nur tun, um bald danach zurückzutreten,“ sagt er. Als Beispiel nennt Toscano Rachida Dati, die französische Justizministerin, die von Sarkozys UMP (Union pour un Mouvement Populaire, etwa: „Union für eine Volksbewegung“; A.d.R.) als Kandidatin aufgestellt wurde - eine Taktik, um sie aus der Regierung zu drängen.
Die Europawahlen werden eher wie eine nationale politische Umfrage in Krisenzeiten sein.
Die Europawahlen werden eher wie eine nationale politische Umfrage in Krisenzeiten sein. Toscano bedauert dies, denn Frankreich hat und hatte seit den 1950er Jahren in Europa eine vorherrschende Rolle. „Im Referendum vom 29. Mai 2005 war Frankreich eines der Länder, die dafür verantwortlich waren, dass die Maschine einen Kurzschluss erlitten hat. Wir warten immer noch darauf, dass es diese Ausbremsung wieder gut macht.“ Sobald etwas schief geht, neigt Paris dazu, Brüssel die Schuld zu geben. Es vergisst, wie viel es von der Europäischen Politik profitiert. Toscano weist auf das umstrittene Beispiel Landwirtschaft hin: „Wenn die Franzosen alles essen müssten, was sie produzieren, würden sie an Fettleibigkeit sterben!“
Während unseres Gesprächs ist Toscano sowohl professionell als auch zugänglich geblieben. Er reißt alle um ihn herum mit, mit seiner Vorliebe für das klassische italienische Kino, Essen, die Schriftstellerei - sogar diejenigen, die nicht derselben Überzeugung sind wie er. „Ich hätte nie gedacht, dass der Tag, an dem ich in Rente ging, ein glücklicher sein würde.“
Translated from Alberto Toscano : « Sarkozy me prend au pied de la lettre »