Abstellgleis: Europas Migranten erster Generation
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Katinka BachSie kamen, um zu arbeiten und sind schlussendlich geblieben. Heute altern die Migranten der 1960er Jahre in den europäischen Großstädten oftmals vereinsamt und in Armut. Ihre Diskretion lässt sie zu einer unsichtbaren Generation werden, während die aktuellen Rentendiskussionen regelmäßig einen Aufschrei in der Gesellschaft hervorrufen.
Die Rentenreform ist in Frankreich und Deutschland in aller Munde. Das Interesse an den Problemen pensionierter Migranten hält sich jedoch in Grenzen. Und das nicht ohne Grund: Die Einwanderung sollte den Arbeitskräftemangel einer alternden Bevölkerung ausgleichen, und nicht zu ihm beitragen. Fast hätte man vergessen, dass Einwanderer auch altern.
Diskriminierung von 7 bis 77
Die Präsenz älterer Migranten betrifft die Mehrzahl der westeuropäischen Länder und insbesondere traditionelle Einwanderungsländer wie Frankreich oder Deutschland, die Niederlande, Belgien oder Großbritannien. Trotz ihrer steigenden Anzahl - aktuell 500.000 in Deutschland und 400.000 in Frankreich - bleiben ältere Migranten bis heute unsichtbar. Man nennt sie in Deutschland „Gastarbeiter“ und in Frankreich „chibanis“, was im Arabischen weiße Haare bedeutet. In den 1950er und 60er Jahren kamen die „Gastarbeiter“ vor allem aus der Türkei, aber auch aus Italien, Spanien und Nordafrika, während die „chibanis“ vorwiegend maghrebinischen Ursprungs waren. Und dennoch teilen sie in bezeichnender Weise Lebenswege und Schwierigkeiten.
Man muss nicht in Frankreich leben, um über die Forderungen der Streikenden gegen die Rentenreform informiert zu sein. Egal ob in Polen, Litauen oder Deutschland: Allerorts werden die französischen Forderungen in Bezug auf die Anhebung des offiziellen Rentenalters kommentiert. Überall scheint man mitbekommen zu haben, dass die Angelegenheit der „älteren Migranten“ droht, unter den Tisch gekehrt zu werden, wie es Ali El Baz, Koordinator des Vereins Association des Travailleurs Maghrébins en France (ATMF) befürchtet: „ Die Gewerkschaften kümmern sich nicht um Einzelfälle. Sicherlich wird vermehrt über die Probleme von Frauen gesprochen, jedoch niemals über die der „älteren Migranten, die vergleichbare Probleme haben“. Der Kommentar eines 58-jährgen Arbeiters fasst die Situation der „älteren Migranten“ recht gut zusammen - ganz bewusst lehnt Ali El Baz Begriffe wie „chibani“ und „beur“ ab, auch wenn sie nicht negativ gemeint sind: „Prekär. Zunächst haben sie am stärksten unter der Kündigungswelle im Europa der 1980er Jahre gelitten und anschließend mussten sie Aushilfsjobs annehmen, ohne jemals wieder in die Rentenkasse einzuzahlen.“
Desillusionierung und Vorbilder
Wen interessiert heutzutage dieses doppelte Handicap der frühen Migranten? Ihre doppelte Benachteiligung zeigt sich zum einen darin, dass sie vor allen anderen die erschwerten Bedingungen am Arbeitsmarkt zu spüren bekommen, wie es die von der staatlichen Rentenkasse in Auftrag gegebene Studie L’Enracinement (Entwurzelung) - Untersuchung über alternde Migranten in Frankreich belegt: 28 % der „chibanis“ sind krank oder körperlich stark eingeschränkt. Zum anderen kommt es vor, dass sie länger gearbeitet und dennoch weniger in die Rentenkasse einbezahlt haben, da sie Opfer betrügerischer Arbeitgeber wurden oder seit den achtziger Jahren keine Festanstellung mehr fanden. In der Konsequenz gehen nur sehr wenige vor 65 Jahren in Rente, so wie es in Frankreich üblich ist.
In Deutschland gibt es unzählige Initiativen, die versuchen, die Benachteiligung der „Gastarbeiter“ zu mildern. Konzepte für neue Formen von Pflegeheimen beginnen sich zu vermehren. Sie richten sich vor allem an ältere Menschen mit Migrationshintergrund und sind an ihre speziellen Bedürfnisse angepasst. Die Bewohner kommen aus derselben Gemeinschaft (türkisch, aber auch arabisch oder russisch) und können in ihrer Muttersprache kommunizieren und fühlen sich somit weniger ausgegrenzt. Ein solches System fehlt in Frankreich, wo die „chibanis“ eher zur „Selbstzensur“ neigen, wie es Ali El Baz in Clichy la Garenne beobachtet hat, wo das Seniorenprogramm der Stadt von keinem der maghrebinischen Bewohner angenommen wird. Den älteren Migranten gebührt eine gesonderte Aufmerksamkeit, ob nun auf der Grundlage von „ethnischen“ Gemeinschaften oder auch nicht.
Ein bisschen wie in Berlin, wo 25% der Einwohner einen Migrationshintergrund haben und wo die Sozialstation der katholischen St.-Marien-Kirche in Kreuzberg und das evangelische Waldkrankenhaus einen Teil Ihrer Räumlichkeiten für ältere Migranten reserviert haben. Daneben entstehen in Deutschland weitere Initiativen wie die Verbreitung von zweisprachigen Infobroschüren zum deutschen Sozialversicherungssystem auf Englisch, Französisch, Spanisch und Türkisch („Sosyal Güvenlik“). Ähnliche lokale Initiativen gibt es in Frankreich, wie beispielsweise das café social im durchmischten 18. Pariser Arrondissement.
Europa? keine Ahnung!
Auch wenn es auf lokaler Ebene viel guten Willen gibt, mangelt es auf „glokaler“ Ebene massiv an einer nachhaltigen Zukunftsperspektive. Fragt man Ali El Baz, ob er von dem Projekt des Europarats Migrants âgés - vieillir dans la dignité et rester acteur de la société (Ältere Migranten - in Würde altern und gesellschaftlicher Akteur bleiben) gehört hat, antwortet er, dass er, obwohl er seit Jahren in der Szene aktiv sei, noch nie davon gehört habe. „Wenn der französische Staat hierüber nicht berichtet, ist es schwer zu erraten.“ Es ist bedauerlich, dass die Kommunikation nicht funktioniert, denn dieses 2009 ins Leben gerufene Projekt bietet den Mitgliedstaaten Hilfestellung, um Migranten den Zugang zur sozialen Versorgung, zu Unabhängigkeit, Integration und Mobilität zu vereinfachen und den Austausch zwischen den Generationen zu fördern. Alles ist gesagt. Doch wer tu den nächsten Schritt?
Fotos: (cc)gemeinde.niederhelfenschw il/flickr ; Türken in Hamburg: (cc)Heinrich Klaffs/flickr ; Pause: (cc)kikasso/flickr; Bank: (cc)Lucas Ninno/flickr
Translated from Les vieux migrants en Europe, une génération oubliée...Jusqu'à quand ?