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20,000 Days on Earth: Nick Cave, der Kannibale

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BerlinKultur

„Wenn ich einen Song ver­stan­den habe, in­ter­es­siert er mich nicht mehr." Was macht ei­gent­lich Nick Cave, der Halb­gott des poe­ti­schen Al­ter­na­ti­ve Rock, an einem ganz nor­ma­len Tag? In 20,000 Days on Earth (2013) schau­en wir Cave beim Sin­gen und Sin­nie­ren zu, la­chen über Nina Si­mo­ne und wun­dern uns über die tief­sin­ni­ge Ver­rückt­heit des aus­tra­li­schen Mu­si­kers.

„Da­mals konn­te ich das Wet­ter mit mei­ner Stim­mung kon­trol­lie­ren. Nur meine Stim­mung konn­te ich eben nicht kon­trol­lie­ren.“ Wäh­rend Nick Cave halb miss­mu­tig, halb ver­son­nen vor einem reg­ne­ri­schen Him­mel im süd­eng­li­schen Brigh­ton her­um­stol­ziert, krei­schen über ihm die Möwen. In sei­nem schwar­zen Anzug, mit schul­ter­lan­gen schwar­zen Haa­ren und di­cken Gold­rin­gen, wirkt er auf der Strand­pro­me­na­de wie ein Alien, der nur zu Be­such auf der Erde ist. Cave selbst sieht sich eher wie ein Kan­ni­ba­le: „Von der Sorte mit di­cken Lip­pen, hohen Wan­gen­kno­chen und einem Kno­chen durch die Nase.“ 19.999 Tage habe er es auf der Erde aus­ge­hal­ten, aber nun – am 20.000s­ten Tag – höre er auf, ein Mensch zu sein.

Was macht Nick Cave, wenn er nicht auf der Bühne steht?

Wie genau der Mu­si­ker und Pri­vat­mann Nick Cave die­sen fik­ti­ven 20.000s­ten Tag ver­bringt, er­zäh­len Jane Pol­lard und Iain For­syth in ihrer Doku 20,000 Days on Earth (2013). Das Dreh­buch des Films, in dem das Leben des Mu­si­kers mit sei­nen Songs, Ge­dich­ten und Er­in­ne­run­gen ver­wo­ben wird, wurde teil­wei­se von Cave selbst ge­schrie­ben. Dar­über, ob es sich über­haupt um einen Do­ku­men­tar­film han­delt, mag man sich also strei­ten, aber ge­ra­de die poe­ti­sche Qua­li­tät der Texte macht die­ses Por­trät zu einem Meis­ter­werk. So zum Bei­spiel, wenn sich Cave mit sei­nem rau­sche­bär­ti­gen Band­kol­le­gen War­ren Ellis von den Bad Seeds trifft und über ein Kon­zert mit Nina Si­mo­ne sin­niert: „Nina war an dem Abend schlecht ge­launt und woll­te ei­gent­lich nur eins: Cham­pa­gner, Koks und Würst­chen.“ Vor ihrem Auf­tritt klebt sie dann ihren Kau­gum­mi an den Kon­zert­flü­gel, den Ellis spä­ter ab­knib­belt und für die Nach­welt kon­ser­viert.

Of­fi­zi­el­ler Kinotrai­ler von 20,000 Days on Earth (2013)

Ge­schich­ten wie diese ma­chen 20,000 Days on Earth zu mehr als einer Nach­er­zäh­lung des Künst­ler­le­bens von Cave, der 1957 im aus­tra­li­schen War­rack­na­be­al ge­bo­ren wurde. Pol­lard und For­syth geht es vor allem darum, Cave eine fil­mi­sche Bühne zu bie­ten, auf der er sich und seine Musik mit allen ihren poe­ti­schen Höhen und Tie­fen re­flek­tie­ren kann. Selbst­ge­sprä­che Caves und Auf­nah­men aus dem Stu­dio wer­den un­ter­bro­chen von Dia­lo­gen mit mu­si­ka­li­schen Weg­ge­fähr­ten, dar­un­ter auch Blixa Bar­geld und Kylie Mi­no­gue, wäh­rend Ar­chi­va­re in Ma­te­ri­al aus der Nick Cave Collec­tion des Arts Cent­re Mel­bourne kra­men. Nick Cave selbst, der auch mal über die „Gottähn­lich­keit“ des Rock­mu­si­kers auf der Bühne sin­niert, gibt sich dabei über­ra­schend un­prä­ten­ti­ös. 

Wich­ti­ger Mist und ge­nia­l ver­spon­ne­nes Song­wri­ting

Aus Caves „wich­ti­gem Mist“ webt 20,000 Days on Earth das Bild eines gro­ßen Den­kers, der sich an wil­den Me­ta­phern und poe­ti­scher Spra­che berauscht, all­mor­gend­lich Ge­schich­ten in die Schreib­ma­schi­ne hackt und ne­ben­bei auch noch Songs schreibt. Im Leben gehe es, so Nick Cave, immer um das Nach­er­zäh­len einer Ge­schich­te, um die My­thi­sie­rung von Er­in­ne­run­gen und deren Aus­ar­bei­tung in Musik: „Aber wenn ich einen Song ein­mal ver­stan­den habe, ist er nicht mehr in­ter­es­sant.“ Dem­entspre­chend span­nend sind vor allem die Sze­nen, in denen Cave mit sei­nen Band­kol­le­gen von den Bad Seeds im Stu­dio sitzt, mit War­ren Ellis zu­sam­men im­pro­vi­siert oder einen fran­zö­si­schen Kin­der­chor di­ri­giert. Wenn man diese Ver­satz­stü­cke spä­ter in einem Song auf dem Album Push the Sky Away (2013) hört, er­scheint die Musik durch­dach­ter und or­ga­ni­scher.

Auch seine Lon­do­ner Tage ge­rin­nen zu An­ek­do­ten, die um die Be­geg­nung mit sei­ner Frau Susie krei­sen: „Da­mals war ich ein Jun­kie, ging aber jeden Sonntagmor­gen in die Kir­che. Ich hörte mir an, was der Pries­ter zu sagen hatte, dann lief ich in die Por­to­bel­lo Road und holte mir mei­nen Stoff. Dabei fühl­te ich mich gut: ein biss­chen Gutes, ein biss­chen Schlech­tes.“ Susie habe ihn dann aber vor sich selbst ge­ret­tet: „Sie sagte zu mir, dass ich da etwas sehr Ge­fähr­li­ches und po­ten­ti­ell Le­bens­be­droh­li­ches mache. Dann muss­te ich ihr ver­spre­chen, nie mehr in die Kir­che zu gehen.“

Ob­wohl Nick Cave in 20,000 Days on Earth als Mu­si­ker, Autor und Schau­spie­ler in sei­ner gan­zen künst­le­ri­schen Kraft auf­tritt, ist der Film doch re­flek­tiert genug, um nicht ins un­er­träg­lich Ha­gio­gra­fi­sche ab­zu­drif­ten: „Du musst deine ei­ge­nen Un­zu­läng­lich­kei­ten er­ken­nen. Denn diese Un­zu­läng­lich­kei­ten ma­chen dich zu der wun­der­ba­ren Ka­ta­stro­phe, die du wohl bist.“ Nick Caves fik­ti­ver 20.000s­ter Tag auf die­ser Erde muss ein guter ge­we­sen sein, denn seine ka­ta­stro­pha­le Seite zeigt sich bei den Spa­zier­gän­gen durch Brigh­ton kaum. Wer ihn und seine Musik nicht mag oder de­fi­ni­ti­ve Ant­wor­ten er­war­tet, dem wird der Film eher nicht ge­fal­len. Warum isst Nick Cave kei­nen ge­bra­te­nen Aal mit Voll­korn­nu­deln? Warum hat Blixa Bar­geld wirk­lich die Band ver­las­sen? Und warum geis­tert Hannah Montana durch einen neuen Song? Auf diese Fra­gen gibt 20,000 Days on Earth keine Ant­wor­ten.

Im­pro­vi­sa­tio­nen zum Album "Push the Sky Away" (2013). 

Das würde aber auch nicht zu Nick Caves Wirk­lich­keits­auf­fas­sung pas­sen, denn er in­ter­es­siert sich oh­ne­hin wenig für das, was er ver­steht: „Es geht um das, was unter der Ober­flä­che der Wirk­lich­keit liegt, wie die Bu­ckel eines See­mons­ters. Das Ziel mei­ner Musik und mei­ner Büh­nen­auf­trit­te ist es, die­ses Mons­ter an die Ober­flä­che zu lo­cken.“ Wenn Cave in einer der letz­ten Ein­stel­lun­gen zu sei­nem Song Ju­bi­lee Street in gol­de­nem Glit­zershirt über die Bühne fegt, ge­lingt ihm das ganz si­cher­lich. Ob Mons­ter, Alien oder Kan­ni­ba­le: Zu Nick Cave scheint fast alles zu pas­sen, was au­ßer­halb des Ge­wöhn­li­chen liegt. Selbst ein Kno­chen durch die Nase würde ihm wohl ganz gut ste­hen.

CA­FE­BA­BEL BER­LIN BEI DER 64. BER­LI­NA­LE

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