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„Wir Sozialdemokraten wollen, dass Menschen von ihrer Arbeit leben können“

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Berlin

Am 22. Sep­tem­ber ist Bun­des­tags­wahl. Ca­fé­ba­bel Ber­lin hat sich mit Ver­tre­tern und Ver­tre­te­rin­nen der Par­tei-Ju­gend­or­ga­ni­sa­tio­nen un­ter­hal­ten: Warum ma­chen sie Po­li­tik? Wie sieht ihr Ver­hält­nis zu Eu­ro­pa aus? Und wo gibt es Kon­flikt­po­ten­ti­al mit der Mut­ter­par­tei? Teil 1 un­se­rer Serie „Jung & po­li­tisch“: Jan Krü­ger von den Jusos. 

Ein warmer Juli-Abend: Eigentlich wollten Jan und ich uns im Kreuzberger Clash treffen, laut Jan ein echtes Jusos-Stammlokal. Der Plan scheitert allerdings an einer dort stattfindenden Veranstaltung. Wir ziehen um und lassen uns in einem Biergarten in der Nähe der Bergmannstraße nieder. Jan (geb. 1986) ist seit Beginn seines Politikwissenschaft-Studiums in Berlin bei den Jusos aktiv und heute Sprecher der Arbeitsgemeinschaft für Europa des Landesverbandes Berlin und Vorsitzender der Jusos Friedrichshain-Kreuzberg. Als Mitarbeiter beim SPD-Landesverband Berlin kümmert er sich außerdem um den Wahlkampf. Wir bestellen Bier (er) und Averna (ich).

Cafebabel Berlin: Warum hast du bei den Jusos Europa zu deinem Thema gemacht?

Jan: Als diese ganze Eurokrise losging, war da schon der Impuls, zu sagen: Man müsste eigentlich mal grundlegender darüber nachdenken. Eine Vorstellung davon entwickeln, was das für uns ist, diese Krise. Was fangen wir damit an, welche Lösungsvorschläge haben wir? In dieser Zeit war ja auch die eigene Partei ein bisschen orientierungslos. Und ich wollte nicht orientierungslos sein!

Cafebabel Berlin: Gab es für dich persönlich einen prägenden, europäischen Moment?

Jan: Ich selber habe nie Erasmus gemacht, weil ich relativ lange im Bundestag gearbeitet habe: Die Arbeit hat mir Spaß gemacht und einen Teil meines Studiums finanziert. So einen Job gibt man eben nicht auf, um ins Ausland zu gehen.

Cafebabel Berlin: Bereust du das im Nachhinein?

Jan: Auf der einen Seite ist es schon ein persönliches Manko – das Gefühl, etwas verpasst zu haben. Auf der anderen Seite ist Berlin so international! Das Otto-Suhr-Institut (Anm. Politikwissenschaftliches Institut der FU) hat ein riesiges Netz an Partneruniversitäten. Die Seminare waren dementsprechend europäisch geprägt. Mein europäischer Moment war sicherlich das Studium. Von der Provinz in die Großstadt – und dann festzustellen, dass hier nicht nur Berliner leben oder Leute aus anderen Ecken Deutschlands.

Cafebabel Berlin: Aus welcher Ecke von Deutschland kommst du?

Jan: Aus der Nähe von Cottbus. Ich bin direkt an der Grenze zu Polen groß geworden. Die EU-Osterweiterung haben wir natürlich dadurch mitbekommen, dass man auf einmal nicht mehr den Pass oder Personalausweis vorzeigen musste, um nach Polen zu kommen.

Cafebabel Berlin: Schon eine Art europäischer Moment.

Jan: Zwar nicht der große europäische Moment, aber schon ein europäischer Moment im Kleinen. Europa ist eben für viele auch, wenn man zum Tanken rüberfährt.

Cafebabel Berlin: Hast du das Gefühl, dass Europa heute als Querschnittsthema im SPD-Wahl-Programm auftaucht?

Jan: Natürlich gibt es dort einen eigenen Absatz zu Europa, in dem es vor allem um die institutionellen Sachen geht: die Direktwahl des Kommissionspräsidenten oder die Forderung nach mehr Demokratie. Aber ich habe das Gefühl, dass auch diese Dinge im Zuge der Eurokrise immer häufiger als Querschnittsthemen auftauchen – europäische Wirtschaftspolitik steht allerdings im Vordergrund. Der große Bereich soziale Daseinsvorsorge wird leider nur im Europateil abgehandelt. Da gibt es offensichtlich nicht die eine, große Idee.

Cafebabel Berlin: Im Grundgesetz steht das Bekenntnis zu Europa. Wird dieses in Form politischer Maßnahmen ausreichend umgesetzt – auch innerhalb der SPD?

Jan: Ein Bekenntnis ist natürlich immer schön und gut. Zumindest in der SPD spielt es eine wichtige Rolle: Wir verstehen uns als sehr sehr pro-europäische Partei. Aber letztendlich stellt sich immer die Frage: Mit welchen Maßnahmen wird das unterfüttert? Und da gehen auch in der eigenen Partei relativ schnell die Meinungen auseinander.

Cafebabel Berlin: Zum Beispiel?

Jan: Inwiefern sollte man Bereiche vergemeinschaften und inwiefern nicht? Beispiel Sozialsysteme: Wenn man die auf europäischer Ebene regeln will, wird der Sozialstaat dabei tendenziell eher abgebaut statt aufgebaut. Bei aller pro-europäischer Haltung ist das zum einen eine politische Gefahr und auf der anderen Seite macht es den Menschen Angst.

Cafebabel Berlin: Aber europaweit gibt es doch auch sozialdemokratische Parteien, die sich für den Sozialstaat einsetzen.

Jan: Die Parteienfamilie sozialdemokratischer Natur ist in Europa sehr bunt. Einige der Parteien sind zum Beispiel wesentlich wirtschaftsfreundlicher als die SPD. Da darf man sich nichts vormachen: Was die Stabilisierung oder sogar den Ausbau unseres Sozialsystems betrifft, gibt es bei weitem keinen europaweiten sozialdemokratischen Konsens.

Cafebabel Berlin: Hast du konkrete Erfahrungen mit solchen Meinungsverschiedenheiten gemacht?

Jan: Während meines Studiums war ich im Bundesvorstand der Hochschulgruppen und deshalb bei einem sozialdemokratischen Seminarwochenende zum Thema nationale Bildung in Helsinki. Es war schon schwierig für die Deutschen, Belgier und Österreicher, mit den skandinavischen Delegationen über Bildung zu reden. In Skandinavien ist Bildung noch sehr klar wirtschaftsfördernd und wird im Sinne eines vorsorgenden Sozialstaats genutzt. Deutsche Jusos hingegen eher finden, dass der Sozialstaat eben nicht nur vorsorgen, sondern auch nachsorgen muss.

Cafebabel Berlin: Einen Konsens gibt es also manchmal innerhalb der sozialdemokratischen Parteienfamilie in Europa nicht.

Jan: Ja, auf europäischer Ebene ist es eher so, dass man denkt: Nett, dass wir uns darüber ausgetauscht haben. Noch brauchen wir den Konsens nicht, denn letztendlich ist das eine nationale Angelegenheit. Vielleicht wäre das anders, wenn man sich wirklich auf etwas einigen müsste.

Cafebabel Berlin: Einigkeit zu erreichen ist momentan in Europa tatsächlich schwierig. Die Bundesregierung predigt das Sparen, andere europäische Länder fühlen sich dadurch von Deutschland bevormundet. Sind wir Deutschen zu unsolidarisch?

Jan: Ich finde diese Debatte schwierig, weil ich nicht glaube – auch, wenn es so suggeriert wird –, dass es die Deutschen gibt. Es gibt eine Generation, für die Erasmus selbstverständlich dazu gehört und die extrem solidarisch ist. Diese Generation zieht einen großen Nutzen aus Europa.

Cafebabel Berlin: Und die anderen?

Jan: Ich glaube, dass bei vielen die Aufrechnung – was hat Europa uns gebracht und was kostet es uns – ganz anders ausfällt. Wir in der SPD sprechen immer vom europäischen Mehrwert. Die Frage ist, wie dieser sich auf die verschiedenen Schichten in der Bevölkerung verteilt. Je nachdem, wie er gesehen wird, ist auch die Skepsis verteilt – und dann richtet sich der Blick eher auf die Kosten.

Cafebabel Berlin: Diese Menschen erreicht man mit pro-europäischer Rhetorik nicht.

Jan: Ja. Es ist aber auch ein Problem politischer Parteien ganz generell, dass wir bestimmte Bevölkerungsschichten einfach nicht mehr erreichen. Wir schaffen es nicht, ihnen zu vermitteln, warum sie wählen gehen sollen, was Politik für sie tun kann.

Cafebabel Berlin: Nächstes Jahr stehen die Wahlen zum Europäischen Parlament an. Es gibt die Idee, dass die verschiedenen Parteinfamilien einen Spitzenkandidaten aufstellen. Was wäre der Vorteil davon?

Jan: Man hätte eine Person, die man in den Vordergrund rücken kann und der als Kommissionspräsident antritt. Damit wäre der Kommissionspräsident jemand, der sich einer Wahl durch die europäische Bevölkerung stellen muss. Das würde europäische Wahlen in der öffentlichen Wahrnehmung noch stärker verankern. Deshalb fordert die SPD die Nominierung eines solchen Spitzenkandidaten auch im Wahlprogramm.

Cafebabel Berlin: Im SPD-Wahlprogramm findet sich auch ein Abschnitt zum Thema Jugendarbeitslosigkeit. Die ist ein riesiges Problem, vor allem in süderopäischen Ländern. Welche Lösungen bietet die SPD?

Jan: Ich persönlich sehe da einen Konflikt mit der eigenen Partei. Denn das Problem ist doch: Der Kampf gegen Jugendarbeitslosigkeit ist ein sehr schönes Instrument, um europapolitische Kompetenz zu beweisen. Aber: Jugendarbeitslosigkeit bezieht sich nur auf Menschen bis 25. Was machen wir mit arbeitslosen 26-Jährigen Menschen?

Cafebabel Berlin: Sprich: Das Problem ist Arbeitslosigkeit im Allgemeinen?

Jan: Genau. Die Frage ist doch: Schafft man es, mit einem Überbietungswettbewerb von mehreren Milliarden Euro, die in Schulungsmaßnahmen fließen, dieses Problem zu lösen? Wenn wir Arbeitslosigkeit effektiv beseitigen wollen, brauchen wir Arbeitsplätze. Eine Wirtschaftspolitik, die meines Erachtens anders aussieht, als das Sparen – und nochmal deutlich über das hinausgeht, was die SPD fordert. Fakt ist: Wir brauchen Konsum, weil nur so Nachfrage nach Produkten entsteht. Und durch Produktion entstehen Arbeitsplätze. Das Auflegen irgendwelcher Milliarden-Programme, welche die Leute befristet in Weiterbildungsmaßnahmen stecken, hilft nicht. Ehrlich gesagt: Da fehlt auch der SPD ein bisschen das Konzept.

Cafebabel Berlin: Nehmen wir mal an, die SPD käme im September an die Regierung. Was würde sie in Sachen europäischer Wirtschaftspolitik grundlegend anders machen als CDU/CSU und FDP?

Jan: Wir müssen an ganz verschiedenen Stellschrauben drehen, um eine Nachfrage zu generieren, die es den Krisenländern erlaubt, aus ihrer Schuldensituation herauszuwachsen – und eben nicht, sich herauszusparen. Das ist tatsächlich etwas, was die SPD anders machen würde. Ich fände es schön, wenn das noch stärker akzentuiert und deutlich gemacht würde, welche konkreten Politikschritten damit verbunden sind. Und dass öffentlich stärker kommuniziert wird, dass Schulden oder Staatsschulden zu einem gewissen Grad völlig normal sind. Wir scheuen diese Auseinandersetzung ein wenig, weil Staatsschulden in Deutschland extrem unpopulär sind.

Cafebabel Berlin: Ich habe oft das Gefühl, dass Europa für viele Politiker einfach nur noch Wirtschaft ist. Dabei hat die EU 2012 für ihre Verdienste um den Frieden 2012 doch den Nobelpreis 2012 bekommen.

Jan: Das Friedensthema war schon viel früher da. Wenn man sich zum Beispiel die Plenarreden von Frank-Walter Steinmeier oder Sigmar Gabriel in der Anfangszeit der Eurokrise 2010 anschaut: Da wurde sehr viel Bezug darauf genommen, dass wir die EU nicht auseinanderbrechen lassen dürfen, weil sie eben 60 Jahre Frieden in Europa geschaffen hat.

Cafebabel Berlin: Wie sieht es mit einer gemeinsamen, europäischen Vision aus? Gibt es die noch?

Jan: Da hapert es doch sehr. Was zum einen an der Kompetenzverteilung liegt, an den unterschiedlichen Prägungen der Parteien – auch innerhalb europäischer Parteienfamilien. Zum anderen an der Institutionenstruktur. Aber klar: Eine inhaltliche Vision gibt es nicht– und die Frage ist, ob es die überhaupt geben kann.

Cafebabel Berlin: Inwiefern?

Jan: Die SPD hat klare Positionen zum deutschen Arbeitsmarkt. Es gibt eigentlich keinen Grund, zu sagen: Was für Deutschland gilt, soll nicht auch für andere Länder gelten. Wir Sozialdemokraten wollen, dass Menschen von ihrer Arbeit leben können. Sowohl hier als auch überall in Europa. Aber das wird im SPD-Regierungsprogramm eher als Fachthema behandelt und nicht als Europathema. Gleichzeitig würde ich nicht sagen, dass das bedeutet, meine Partei hätte keine Vorstellung von Europa. Aber dezidiert werden Ziele eben immer nur auf die nationale Ebene bezogen, weil es auf europäischer Ebene viel schwieriger ist, diese Dinge auszudiskutieren.

Cafebabel Berlin: Im SPD-Programm heißt es außerdem, Europa würde keiner mehr verstehen. Warum lautet der Vorwurf immer, Europa sei zu kompliziert? Müssten wir nicht eher sagen: Europa und die EU sind wichtig und jeder sollte sich mehr Mühe geben, sie zu verstehen?

Jan: Das deutsche politische System ist für die meisten Menschen auch ein Buch mit sieben Siegeln. Es ist also eher eine allgemeine Frage von Politikinteresse und Umgang mit Politik, sowohl auf der nationalen als auch der europäischen Ebene. Ich glaube, dass viele europäisch-orientierte junge Menschen ganz selbstverständlich mit europäischen Institutionen umgehen können, wenn sie ein gewisses Interesse daran haben. Die kann man eher motivieren, zu einer Europawahl zu gehen. Gleichzeitig gibt es Schichten, die zu keiner Bundestagswahl gehen – und erst recht nicht zu einer Europawahl. Das hat sicherlich viel damit zu tun, dass nicht richtig klar ist, was genau diese europäische Ebene leistet und wie handlungsfähig sie wirklich ist. Schon in einem föderalen System wie der Bundesrepublik können viele Menschen nicht klar unterscheiden, welche Ebene welche Zuständigkeit hat. Wie sollen sie das erst auf europäischer Ebene können?

Cafebabel Berlin: Gibt es etwas, das dich total an Europa nervt?

Jan: Dass in der politischen Debatte von Europa immer nur als politische Institutionen geredet wird. Und dass man glaubt, dass man eine europäische Vision entwickelt, wenn man nur über Kompetenzverschiebungen zwischen Institutionen diskutiert. Und dass die Frage weniger im Mittelpunkt steht, wie soll eigentlich ein Zusammenleben, wie soll Freiheit, Gleichheit, Solidarität insgesamt in Europa gelebt werden.