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Wer bist du wirklich, Abdellatif Kechiche?

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Kultur

Schicker Tyrann, tyrannisches Genie: Abdellatif Kechiche scheint alle Klischees eines launischen Regisseurs zu vereinen. Seit einige Techniker das despotische Verhalten des franko-tunesischen Regisseurs am Set seines in Cannes ausgezeichneten Films „Blau ist die wärmste Farbe“ offengelegt haben, ist Frankreichs Kinowelt geteilt. Ein Porträt.

Rückblende: Sonntag, 26. Mai 2013. Was Rang und Namen in der französischen Filmbranche hat, trifft sich auf dem roten Teppich in der Nähe der Croisette an der Côte d’Azur. Die Goldene Palme des 66. Filmfestivals von Cannes geht dieses Jahr an Abdellatif Kechiche und seinen Film „Blau ist die wärmste Farbe“ (Französischer Titel: La Vied’Adèle). Schwarze Fliege, graumeliertes kurzes Haar, eckige Brille: der Regisseur tunesischer Herkunft hat sich in Schale geworfen und erscheint in Begleitung seiner zwei Hauptdarstellerinnen. Er lässt sich, „wie immer“, alle Zeit der Welt, um all jenen zu danken, die an der Entstehung des Filmes mitgewirkt haben…

Kechiche-Bashing

'Le bleu est une couleur chaude' est lauréat du Prix du Public au festival d'Angoulême de 2011.…naja, zumindest fast allen. Einen Tag nach der Dankesrede richtete Julie Maroh, Autorin des Grafikromans „Blau ist eine warme Farbe“, auf ihrem Blog einige Worte an „all jene, die sich darüber empört gezeigt haben, dass Kechiche [mich] vergessen hat“. Das ist tatsächlich bitter, denn das Drehbuch von La Vied’Adèle basiert auf Julie Marohs Comic. Letzten Endes jedoch nimmt die Grafikerin es ihm nicht übel; und auch das französische Musikmagazin „Inrocks“ meint, man könne in einer solch „emotionalen Situation schon mal vergessen, dem einen oder anderen zu danken“. Zudem scheint es in Frankreich Nationalsport zu sein, Stars und Sternchen gerne und gerade dann niederzumachen, wenn sie ein bisschen Ruhm gewonnen haben.

Naja, nicht wirklich. Das „Kechiche-Bashing“ hatte seinen Anfang bereits in einer Pressemitteilung des Spiac-CGT (Verband der in der französischen Filmindustrie Beschäftigten) vom 23. Mai gefunden: Darin kritisierte die Gewerkschaft die schlechten Arbeitsbedingungen bei den Dreharbeiten zu La Vied’Adèle. Daraufhin häuften sich die Beschwerden von Mitarbeitern nur so. Die Bedingungen am Set des 5. Films von Abdellatif Kechiche waren wohl die schlechtesten, die die Filmbranche bislang zu Gesicht bekommen hat: Der hauptsächlich von einer wahren Armee von Praktikanten ermöglichte Dreh war gespickt von Zwischenfällen.

Denis Gravouil, Generalsekretär von Spiac-CGT, hält Kechiche ganz einfach für einen „Tyrannen“. „Die schlimmste Geschichte, die mir über die Bedingungen bei den Dreharbeiten zu Ohren gekommen ist: Ein Vertrauter und enger Mitarbeiter von Kechiche stieg um 5 Uhr morgens - nach 15 Stunden Arbeit - auf eine Leiter, um eine Glühbirne auszutauschen. Der Regisseur bat ihn, sofort aufzuhören, um diese Arbeit jemanden machen zu lassen, der ‚austauschbar‘ ist.“, erzählt er. Viele der Kollegen, die teilweise über Jahre hinweg mit Kechiche zusammengearbeitet hatten, haben ihre Posten mittlerweile verlassen.

„Es ist nicht das erste Mal, dass mich solche Beschwerden über sein Verhalten erreichen“, so Gravouil weiter. „Bei den Dreharbeiten zu seinem letzten Film Black Venus (Vénus Noire) befanden sich einige Techniker in einem Zustand der Erschöpfung, doch Kechiche hat keine Sekunde gezögert, sie vor die Tür zu setzen.“ Bedenkt man, dass der Regisseur in öffentlichen Erklärungen oft sein Bedauern und Mitgefühl angesichts der schlechten Arbeitsbedingungen in der Filmbranche ausgesprochen hatte, erstaunt die Affäre Kechiche umso mehr. Wer bist du wirklich, Abdellatif Kechiche? Die Antwort findet sich wohl nicht in La Vied’Adèle – Blau ist die wärmste Farbe, sondern in der Vergangenheit.

Vom Gigolo zum Liebling der Kritiker

Abdellatif Kechiche wird am 7. Dezember 1960 in Tunis geboren. 6 Jahre später zieht seine Familie nach Nizza in Südfrankreich. In den 1970er Jahren wächst der kleine „Abdel“ in einem Frankreich auf, in dem es noch üblich ist, Maghrebiner mit dem rassistischen Ausdruck „Melon“ zu bezeichnen. Als Jugendlicher flüchtet er sich in dunkle Kinosäle und ist geradezu besessen von den Filmen von Claude Miller und Bertrand Blier. Später träumt er davon, Schriftsteller zu werden und schreibt sich am Konservatorium von Nizza ein. In den 80er Jahren spricht die Presse vom „Cinémabeur“ (Kino von arabischstämmigen Einwanderern in Frankreich; A.d.R.). Neben seinem Theaterstudium und einigen Rollen am Theater spielt Kechiche seine erste Kinorolle in einem Film von Abdelkrim Bahloul, Pfefferminztee (Le Thé à la menthe, 1984). Auch drei Jahre später beeindruckt er durch sein schauspielerisches Talent mit seiner Rolle als Gigolo im Film Die Unschuldigen (Les Innocents) von André Téchinéen aus dem Jahr 1987. In diesem Jahr trifft er auch seine zukünftige Frau Ghalia Lacroix, die seine Vertraute und Mitarbeiterin wird und mit der er die Dialoge all seiner zukünftigen Filme schreiben wird.

„Er steht für eine neue Generation von Regisseuren ohne Regeln“

Allerdings sollte Kechiche erst 20 Jahre nach seinen ersten Begegnungen mit dem Kino als Regisseur erfolgreich sein. 2005, vier Jahre nachdem sein erster Spielfilm Voltaire ist schuld (La Faute à Voltaire) floppte, räumte sein zweiter Film L’Esquive vier Césars (der französische Oskar, A.d.Ü.) ab. Dieser von Laienschauspielern gespielte Film erzählt die Geschichte einer Gruppe Jugendlicher aus der Vorstadt, die ein Theaterstück von Marivaux auf die Beine stellen. Mit Couscous mit Fisch (La graine et le mulet, 2007) und Black Venus (2010) hat der Regisseur endgültig die Gunst der Medien und Kritiker für sich und seinen langatmigen Erzählstil gewonnen. Wer einen Kechiche-Film sehen will, braucht Durchhaltevermögen: Seine 5 Filme dauern durchschnittlich geschlagene 2 Stunden und 20 Minuten. Eine Warnung an alle, die bei längeren Streifen nicht immer durchhalten: La Vied’Adèle – Blau ist die wärmste Farbe dauert 2 Stunden und 50 Minuten. Man munkelt, dass ganze 750 Stunden Filmmaterial dafür gedreht worden seien.

Im Namen der Kunst lässt sich Kechiche seine Zeit. Und nicht nur seine; auch die der anderen. Ursprünglich waren die Dreharbeiten auf 2,5 Monate angesetzt worden, letztendlich war das Team aber 5 Monate mit dem Dreh zu Blau ist die wärmste Farbe beschäftigt.

La Vied’Adèle – Blau ist die wärmste Farbe hat 4 Millionen Euro gekostet. „Das ist teuer, die durchschnittlichen Kosten für einen derartigen Film liegen bei 2 bis 3 Millionen Euro“ erklärt Denis Gravouil. „Seit Kechiche seine eigene Produktionsfirma gegründet hat („Quat’Sous“, A.d.R.), hat er Narrenfreiheit. Die Doppelrolle als Regisseur-Produzent erlaubt es dieser neuen Generation von Cineasten, sich von allen Regeln loszusagen.“ Der Fall Kechiche ist ein Beispiel dafür, wie das französische Kino zweiköpfige Monster gebärt. Zwei Köpfe, von denen keiner aufs Wesentliche schaut. Ob nun in einer Dankesrede oder überhaupt.

La Vie d’Adèle - Blau ist die wärmste Farbe läuft am 9. Oktober in den französischen Kinos an.

Video: (cc)popelinedejersey/YouTube

Story by

Matthieu Amaré

Je viens du sud de la France. J'aime les traditions. Mon père a été traumatisé par Séville 82 contre les Allemands au foot. J'ai du mal avec les Anglais au rugby. J'adore le jambon-beurre. Je n'ai jamais fait Erasmus. Autant vous dire que c'était mal barré. Et pourtant, je suis rédacteur en chef du meilleur magazine sur l'Europe du monde.

Translated from Mais qui es-tu, Abdellatif Kechiche ?