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„Wenn man der Geschichte Gerechtigkeit widerfahren lässt, wird niemand ausgeschlossen“

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Default profile picture loren lesko

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Default profile picture maren kraus

Welchen Platz sollte die Religion in Europa einnehmen? Bronislaw Geremek, ehemaliger polnischer Außenminister, über seine Sicht der Dinge.

Café babel: Wie erklären Sie sich die polnische Absicht, das christliche Erbe Europas als Referenz in die Präambel des Vertrages über eine Verfassung Europas mit aufzunehmen?

Ich glaube nicht, dass man die Position Polens als Ausdruck einer konfessionellen Forderung verstehen muss. Polen sieht die Europäische Union als eine laizistische Struktur und nicht als eine Gemeinschaft, die sich zum christlichen Glauben bekennt. Ich denke, die eigentliche Frage dreht sich nicht um die Religion, sondern um die Art und Weise, wie man die Zukunft der Union sieht. Obwohl die Europäische Union weder ein Staat noch eine Nation ist – da sie über keinen "Demos" verfügt - versucht sie in ihrer Verfassung dennoch an die Idee einer Gemeinschaft zu appellieren. Denn die Verfassung übt eine doppelte Funktion aus: sie definiert die Kompetenzen, die den Institutionen zugeteilt werden, bezieht sich aber auch auf die Basis der Gemeinschaft selbst: Durch ihre Vergangenheit, ihre Geschichte und ihre grundlegende Werte. Es sind diese Wurzeln, die Polen in die Verfassung mit aufnehmen will.

Macht das Christentum einen Teil dieser grundlegenden Werte Europas aus?

Das Christentum macht vor allem einen Teil der Geschichte Europas aus. Selbst Voltaire, der weder den lieben Gott noch die Religion mochte, sagte, dass Europa christlich ist. Er bezog sich auf die Glaubensgemeinschaft und die Kultur des mittelalterlichen Christentums. Man muss aber auch die Bedeutung der intellektuellen Elite der Aufklärung und ihren Vernunftbegriff unterstreichen. Man muss der Geschichte Gerechtigkeit widerfahren lassen, wenn man die Grundlage der Europäischen Gemeinschaft in der Verfassung sicherstellen will. Aber man lässt der Geschichte nicht ausreichend Gerechtigkeit widerfahren. Die Kontroversen bezüglich der Erwähnung eines religiösen, zudem spirituellen Erbes, im Rahmen der Charta der Grundrechte oder der Präambel der Verfassung für Europa, entspringen einer falsch geführten Debatte. Man wertet den Beitrag der Griechen und Römer auf und geht dann direkt zur Aufklärung über. Man muss folglich die polnische Haltung nicht als eine konfessionelle Verbindlichkeit sehen, sondern als eine Absicht, der Geschichte Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Mehr noch als die Berücksichtigung der Vergangenheit drückt sie außerdem den Wunsch aus, einen Gemeinschaftsgeist für ein starkes Europa auf der Basis grundlegender Werte zu etablieren.

Aber schließt man nicht andere Konfessionen aus, wenn man sich auf das christliche Erbe bezieht?

Wenn man der Geschichte Gerechtigkeit widerfahren lässt, schließt man niemanden aus. Deshalb muss man auch zur Sprache bringen, welche Rolle die großen islamischen Zentren bei der Vermittlung antiken Wissens für das mittelalterliche und moderne Europa spielen. Wenn man diese Schlüsselrolle in der Verfassung erwähnt, schafft man kein Klima des Ausschlusses. Die europäische Rechtsgemeinschaft braucht ein Gefühl einer historischen Gemeinschaft. Dieses Element könnte das europäische Bildungsinstrument werden. Wenn man sich eine Schulklasse vorstellt, die sich mit diesem langen, juristischen Text beschâftigt, spürt man die Notwendigkeit ihm eine spirituelle Dimension beizufügen, die positive Energien freisetzt.

Aber die eventuelle Berücksichtigung von Aspekten anderer Religionen in der Verfassung findet keinerlei Beachtung in der öffentlichen Diskussion...

Ich habe die Regierenden mehrmals über meine Auffassung in Kenntnis gesetzt... Wenn man nicht die ganze Wahrheit sagt, wäre es besser gar keinen Bezug herzustellen. Gewiss, eine Verfassung ist kein literarisches Werk, aber es würden ein paar Wörter ausreichen um den Einfluss anderer Religionen zur Sprache zu bringen. Ohne dies ist der Text zu knapp. Ich würde sagen, dass man weniger politisch korrekt sein sollte und dafür mehr die Geschichte berücksichtigen sollte.

Auf welcher Basis werden die Beziehungen zwischen Staat und Kirche in Polen geregelt?

Polen ist ein katholisches Land mit dem höchsten Anteil praktizierender Katholiken in Europa. Aber die Verfassung etabliert eine Trennung zwischen Kirche und Staat, während man den religiösen Institutionen die notwendigen Rechte zur Selbstständigkeit zuerkennt. Die Formulierung der Präambel der polnischen Verfassung könnte allerdings nützlich für das Projekt der Europäischen Verfassung sein. Sie bezieht sich auf die grundlegenden Werte der Gerechtigkeit, der Wahrheit, der Freiheit und der Schönheit. Sie erkennt an, dass der Ursprung dieser Werte vielleicht bei Gott wieder gefunden werden kann oder aus anderen Quellen herrührt. Das ist eine universelle Basis, die alle Religionen anerkennt ohne diejenigen auszuschließen, die agnostisch sind.

In zahlreichen Kontroversen wurde in letzter Zeit über die Symbole diskutiert, durch die sich Religionszugehörigkeit ausdrückt. Zuletzt wurde in Frankreich die Schleier-Frage aufgeworfen und in Italien die Frage der Kruzifixe in Klassenräumen. Zwei Synagogen wurden zur Zielscheibe von Attentaten in der Türkei. Kann man von einer Rückkehr der Religionen sprechen?

Keine Religion stachelt Hass an, aber alle können als ein Instrument des Hasses benutzt werden. Es ist nicht die Religion, die dazu benutzt wird, sondern tiefsitzende Ängste angesichts der Frage, wie die Welt sich weiterentwickelt. Ich hätte gerne den Beginn einer Diskussion gesehen, die sich nicht mit der Frage nach der Religion, sondern mit der Frage der Toleranz und der pluralistischen Koexistenz religiöser Ansichten beschäftigt. [...] Dem Menschen steht es frei sich so zu verhalten, wie er es seiner Überzeugung nach für richtig erachtet, wenn sie sich nach den in den Gesellschaften etablierten Verhaltensweisen richten. Diese zwei Dynamiken sind immer gegensätzlich, aber sie machen die Natur des politischen Lebens in einer modernen Gesellschaft aus.

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Translated from « En rendant justice à l’histoire, on n’exclut personne »