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Tausende gegen Sozialreform

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Istanbul

Am Montag (1. April) sind allein in Istanbul 5000 Menschen dem Aufruf der Gewerkschaften gefolgt und haben gegen den Gesetzesentwurf der Regierung zur Reform des türkischen Gesundheits- und Rentenversicherungswesens protestiert. Weitere Demonstrationen wurden für Samstag, den 6. April angekündigt.

In Kadıköy, auf der asiatischen Seite, versammelten sich rund 2000 Menschen. Auf der europäischen Seite, in Çağlayan, waren es sogar schätzungsweise 3000 Menschen, die vor dem Parteigebäude der regierenden AKP demonstrierten.

Worum geht’s?

Das türkische Renten- und Gesundheitssystem leidet unter einer hohen Überschuldung. Um die Leistungsfähigkeit der Sozialversicherungsträger zu garantieren, muss der türkische Staat in diesem Jahr rund 30 Mrd. türkische Lira aufbringen. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan sagt: „Wir können die Sozialreform nicht weiter aufschieben. Das derzeitige Sozialversicherungssystem ist nicht zukunftsfähig.“ Der Internationale Währungsfonds (IWF) fordert seit Jahren die von der türkischen Regierung nun dem Parlament vorgelegten Kürzungen. Die EU zeigt sich ungeduldig. Türkische Gewerkschaftsvertreter hingegen warnen vor übereilten Entscheidungen.

Der größte Stein des Anstoßes ist das Vorhaben der Regierung, das Renteneinstiegsalter von derzeit 58 (für Frauen) und 60 (für Männer) auf 65 Jahre zu erhöhen.

Tatsache ist jedoch, dass in keinem anderen Land der OECD das Rentenalter so niedrig ist wie in der Türkei. Und die türkische Bevölkerung wird tendenziell älter: Die Lebenserwartung liegt derzeit für Männer bei 75 Jahren und für Frauen bei 76.

Der Gesetzesentwurf der Regierung sieht zudem vor, dass alle sozialversicherungspflichtig Beschäftigten bei der neu gegründeten Anstalt für Soziale Sicherung kranken- und rentenversichert sind. Das klingt gut. Nach Ansicht der Gewerkschaften würden Arbeiter und Angestellte dadurch tatsächlich jedoch schlechter gestellt. Den Versicherten drohe ein Verlust ihrer in der Vergangenheit erworbenen Ansprüche.

Bemerkenswert ist außerdem, dass in der Türkei derzeit mehr als ein Drittel der Menschen über 65 Jahre über keinerlei Rentenansprüche verfügen und die Hälfte der türkischen Arbeitnehmer ohne rechtliche und soziale Absicherung im informellen Sektor arbeitet.

Geeinigt haben sich Gewerkschaftsvertreter und die türkische Regierung unterdessen darauf, dass die Zahl der für die Rentenbezüge nachzuweisenden Arbeitstage von 9000 auf 7200 reduziert wird.

Das Reformpaket der AKP-Regierung soll am 1. August 2008 in Kraft treten. Vorausgesetzt, es gibt bis dahin eine Einigung und eine funktionierende Regierung (das türkische Verfassungsgericht verhandelt derzeit über den Verbotsantrag des Generalstaatsanwalts gegen die regierende AKP und einzelne seiner Mitglieder).

Was bisher geschah:

Mitte März hatten Arbeitnehmer überall in der Türkei bereits für zwei Stunden die Arbeit niedergelegt: Von 10 bis 12 Uhr streikten Lehrer, Ärzte, Krankenschwestern, Reinigungskräfte, Busfahrer. Flugzeuge blieben in Wartestellung. Selbst einzelne Nachrichtenagenturen stoppten für eine Viertelstunde ihre Dienste beziehungsweise berichteten ausschließlich über den Streik. Es war der erste Massenstreik seit Jahrzehnten.

Dorte HUNEKE