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Tattoos & Bücher: Die 'Sibirische Erziehung' des Nicolai Lilin

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Kultur

Von Russland nach Italien - über Transnistrien. In seinem literarischen Debüt „Educazione siberiana“ erzählt Nicolai Lilin den Lebensweg eine jungen Auswanderers, der sich für ein neues Land und eine neue Kultur entscheidet, aber dennoch die antiken Traditionen seiner Heimat nicht vergisst. Ein Interview mit dem 29-jährigen Autor und Tätowierer.

Educazione siberiana ["Sibirische Erziehung", A. d. R., erschienen bei Einaudi, 2009] ist das literarische Debüt von Nicolai Lilin: Die Geschichte eines jungen Mannes, der nach den Regeln der Tradition einer antiken, „kriminellen“ Gemeinschaft in Sibirien aufgewachsen ist. Einer Gemeinschaft, die nur überleben konnte, weil sie sich, auch mit Gewalt, dem kommunistischen Regime widersetzte, das sie als „kriminell“ bezeichnete. Einer Gemeinschaft, die von Stalin nach Transnistrien deportiert und dort isoliert wurde. Transnistrien, die russische Enklave, eingeschlossen zwischen Moldawien und der Ukraine, ist ein kleines, fast völlig unbekanntes Land: Das „stabilisierte De-Facto-Regime“ (selbst erklärte Unabhängigkeit seit 1990) ist offiziell ein Teil Moldawiens. Nach dem harten Wehrdienst für die russische Armee in Tschetschenien beschloss Nicolai, ein neues Leben zu beginnen. Im Jahr 2003 verließ er Russland und ging nach Italien, wo bereits seine Mutter lebte. Seit einigen Jahren betreibt er ein kleines Tattoo-Studio. Hier hält er die antike Tradition der sibirischen Tätowierkunst am Leben, die strengen Regeln und komplizierten Kodexen folgt.

In deinem Buch geht es um die Verteidigung der Identität in Form von Respekt für die Traditionen einer Gemeinschaft. Hat diese Tradition den sowjetischen Sozialismus überlebt?

Die sibirische Gemeinde, in der ich aufgewachsen bin, entspringt eigentlich einer noch viel antikeren Tradition, die bereits ein System der Selbstkontrolle entwickelt hatte und sich jeder Form von Macht widersetzte. Nicht nur der Macht des Sozialismus, sondern auch schon der des Zaren und überhaupt jeder Art von Versklavung. In meinem Buch erzähle ich, wie der Widerstand gegen den Kommunismus diese Gemeinschaft, ihre Traditionen, ihre sozialen Regeln veränderte - bis zu ihrer Vernichtung. Ich bin in Transnistrien aufgewachsen, wo die Menschen vom Regime zum Leben gezwungen wurden. Bereits Ende der 1980er Jahre wusste ich, dass unsere Gemeinschaft aussterben würde. Als ich zu schreiben begann, wurde mir klar, dass die Tradition diesen Menschen geholfen hat zu überleben, sie aber dennoch nicht retten konnte.

Wie viele Mitglieder hat die sibirische Gemeinschaft in Transnistrien heute?

Es gibt keine Gemeinschaft mehr. Ich, mein Bruder und vielleicht noch ein paar andere. Das Problem ist, dass es auch in Sibirien nichts mehr gibt. Der Kern wurde nach Transnistrien deportiert und hat dort nicht überlebt. Die Gemeinde, die ich in meinem Buch beschreibe, bestand aus 40 Familien. Man könnte sagen, die Tradition war ein Ansatz, ein Versuch, aber unter bestimmten Umständen kann eine entwurzelte Gemeinschaft einfach nicht überleben.

Transnistrien ist ein unbekanntes Land, ein Stück Russland im Herzen Osteuropas. Welches Bild hast du von Russland in Europa?

80 Prozent der Informationen, die uns aus Russland erreichen, sind falsch. Zum einen liegt das an den mangelnden Kenntnissen gewisser westlicher Journalisten. Zum anderen ist Russland eine immense, schwer zu verwaltende Nation. Eine Realität wie diese kann man nicht mit ein paar Worten abtun. Die einzige Gewissheit, die wir haben können, ist, dass Russland wohl auf ewig im Chaos versinken wird. Das ist ganz natürlich, ein historischer Status. In Russland gibt es keine demokratische Regierung und es wird auch nie eine geben. Ein so großes Territorium mit all den darauf lebenden Volksgruppen kann allein von einer Diktatur unter Kontrolle gehalten werden. 

Fühlst du dich als Russe, Sibirer oder Italiener?

Als Italiener, in jeder Hinsicht. Ich bin italienischer Staatsbürger und ich fände es falsch und ungerecht, mich als Russen zu definieren. Auch wenn ich deswegen in letzter Zeit von meinen ehemaligen russischen Landsleuten oft kritisiert wurde.

Was denkst du über die osteuropäischen Länder, die jüngst der EU beigetreten sind, wie Rumänien oder Bulgarien?

©privatIch habe viele bulgarische Freunde und kenne die Situation in Bulgarien ziemlich genau. Es freut mich, zu sehen, wie die EU diesen Ländern Chancen für zukünftige Entwicklung eröffnet. Ich habe mit bulgarischen Jugendlichen gesprochen, deren Mentalität ganz anders ist als die ihrer russischen Altersgenossen. Für sie ist es nicht nur wichtig, so viel wie möglich zu verdienen, sie wollen auch einen Beitrag zur Gesellschaft und zur Entwicklung der Demokratie leisten. Sie reisen und sehen sich Westeuropa und die Welt an. Sie sehen, was Rechte für die Jugend oder Erasmus bedeuten und sie sehen auch, dass sich Menschen in anderen Ländern hervorragend integrieren und dort studieren oder arbeiten können. Eine allumfassende Demokratie und wahre soziale Entwicklung wird es aber erst in vielen Jahren geben, wenn die alten Generationen vollkommen durch neue ersetzt wurden.

Welche Rolle spielen Tätowierungen in deinem Leben? Und was haben sie mit der Literatur gemeinsam?

Die Tradition der Tätowierungen, die ich erlernt habe, die ich auf meinem Körper trage und die ich weiter überliefere, ist kein Zurschaustellen, sondern eine Form von Kommunikation. Wie ein Buch, das jemand bei sich trägt. Tätowierungen sind etwas Besonderes. Ich hasse Exhibitionismus und zeige meine Tätowierungen nicht gern. Literatur und Tätowierungen haben viel gemeinsam, wenn Letztere auch eine wesentlich elementarere, natürlichere und primitivere Ausdrucksform darstellen. Literatur geht tiefer, sie ist moderner und unsterblich. Beide Ausdrucksformen erfordern jedoch Demut und Ehrlichkeit. Den Kontakt zu Menschen zu spüren, die nicht mehr sind, die aber ihre ehrliche, humane Botschaft frei von Arroganz überbringen, ist ein Gefühl, das vor allem die Literatur, aber auch die Tätowierkunst zu vermitteln mag.

Translated from L’educazione siberiana di Nicolai Lilin