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Tallinn 2011: Märchenstund’ hat Gold im Mund

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Katha Kloss

Kultur

Der Este ist stolz, und er wird alles dafür geben, Tallinn 2011 als würdige Kulturhauptstadt zu präsentieren. Auch wenn Europa nörgelt.

"Estland ist ein Wunderland", so die stolzen Worte von Katri Ristal, Direktorin des Design Innovation Centre der Estnischen Kunstakademie. Riin Kranna-Rõõs und Eve Arpo, zwei ihrer Studentinnen, schütteln bei so viel Selbstbewusstsein nur den Kopf. Ristals Beschreibung ihres Heimatlandes ergibt eine treffende Koinzidenz mit dem Motto, das sich die estnische Hauptstadt Tallinn für das Projekt 'Kulturhauptstadt 2011' gewählt hat: "Tallinn - ein ewig währendes Märchen".

Bezaubernd ist das historische Zentrum von Tallinn mit seinen Speicherhäusern, den Wehrtürmen der alten Hansestadt und den Zwiebeltürmen der Alexander-Newski-Kathedrale, russisch-orthodoxes Wahrzeichen unweit des estnischen Parlaments. Auf dem mittelalterlichen Raekoja Plats singt eine Gruppe von Schülern in folkloristischer Tracht. Märchenhaft winden sich die kleinen Kopfsteinpflastergassen auf den Domberg (Toompea) hinauf. Genau dieses Bild möchte Tallinn als Kulturhauptstadt repräsentiert wissen. Und so rankt sich denn auch auf dem großen Plakat, welches die komplette Fassade des berühmten Café Moskau ziert, das florale Muster um das mittelalterlich typographisierte Logo für 2011. Die dritte Bewerbung Tallins als Europäische Kulturhauptstadt war in Brüssel endlich auf Gegenliebe gestoßen.

Stillstand ist der Tod

"Alle Türen stehen offen, man muss nur wählen", sagt Ristal in Bezug auf den estnischen Kulturbetrieb. Eine dieser Türen hat auch Tiina Lokk geöffnet. 1997 hat sie eines der größten, international renommierten Filmfestivals in Tallinn ins Leben gerufen: mit Lokks Black Nights Film Festival (PÖFF), dessen Name auf die Mystik der stockfinsteren Nächte des estnischen Winters anspielt, soll das Kulturhauptstadt-Jahr 2011 voraussichtlich eröffnet werden.

"Estland ist ein Land der Legenden", erklärt Tiina Lokk weiter, deren Büro sich in dem ehemaligen sowjetischen Fernseh- und Radiogebäude befindet, an dessen grauer Fassade eine große, weiße Taube prangt. "Wenn man mit dem Flugzeug in Tallinn ankommt, kann man schon von weit oben den Ülemiste-See erkennen, der höher als die Stadt gelegen ist. In diesem See lebt ein Alter (Ülemiste vanake), der jeden Donnerstag an die Stadttore tritt und fragt: 'Ist Tallinn fertig gebaut?'. Und die Bewohner der Stadt antworten: 'Tallinn ist nicht fertig'. Wäre Tallinn jemals vollkommen, würde der See die Stadt überfluten."

Auch diese Legende hat sich Tallinn für 2011 zueigen gemacht. Neben der Touristenversion des "ewig währenden Märchens", ist die "stets unvollendete Stadt" das zweite Leitmotiv der Kulturhauptstadt. Nach mehr als 300 Jahren Fremdherrschaft - als deutsche Hansestadt Reval, im 15. Jahrhundert zu Schweden, dann wieder zu Russland gehörig, in die Hände der Nazis geraten und bis ’91 Mitglied der UdSSR - hat sich die Stadt eine gewisse Flexibilität errungen, die Potenzial für das Konzept Kulturhauptstadt birgt. Die Wandlungsfähigkeit Tallinns ist gleichzeitig ihre schöpferische Kraft.

Besserwisser Europa

Mit diesem Paket aus Legenden und Tradition im Gepäck waren die stellvertretende Bürgermeisterin Kaia Jäppinen und Lennart Sundja, leitender Beamter der Kulturerbe-Abteilung Tallins, im Sommer nach Brüssel gefahren, um dem Europäischen Kulturausschuss die Pläne für 2011 schmackhaft zu machen. Der Ausschuss jedoch bremste die estnische Euphorie zunächst aus. Neben vielen folkloristischen Programmpunkten fehle es in Tallins Programm für 2011 an zeitgenössischer Kunst. Zu sehr habe man sich auf kulturelles Erbe und Identitätsstiftung durch Tradition versteift. "Die notwendige Exzellenz, die der Träger des ECOC-Titels aufweisen muss" fehle, so die Schlussfolgerung des Berichts der Kommission vom 4. Juni. Außerdem sei die multikulturelle Bevölkerung, insbesondere die Minorität mit russischem Hintergrund, umfassender in das 2011-Programm zu integrieren.

"Diese Kommentare beziehen sich auf die Ausschreitungen um den Bronzesoldaten im vergangenen April", bedauert Sundja in einen massiven Eichenholzstuhl des Kulturerbe-Gebäudes am Tallinner Rathausplatz gelehnt. "Wissen Sie, wenn sie in Brüssel gefragt werden, ob sie eventuell ein Konzert einer Sankt Petersburger Gruppe mit in ihr Programm aufnehmen könnten - dann ist das einfach nur lächerlich. Im Bereich Kultur ist das unser Alltag!" Auch Tiina Lokk vom PÖFF bestätigt, dass die Multi-Kulti-Kooperation im Kulturbetrieb funktioniert. Viele Filme des Festivals stammen von russischsprachigen Autoren, andere sind untertitelt. "Im Kinosaal sind alle gleich."

Für nur 1,5 Millionen Euro Zubrot der EU, bei einem geplanten Gesamtbudget von über 17 Millionen, ist das Urteil der EU bitter. Aber Prestige verpflichtet: Der Titel 'Europäische Kulturhauptstadt' steht für Entwicklung und Fortschritt. Für 2011 solle nun ein Projekt ins Leben gerufen werden, erklärt Sundja, das "ausgehend vom Bronzesoldaten die Geschichte hinter den Monumenten erzählt". Ein Buch und Seminare sind geplant. "Wir suchen nach interessanten Wegen, um das Thema anzugehen. In Litauen hat man alte Monumente in eine Art Themenpark [Stalin World] verfrachtet", erklärt Sundja lächelnd. Neben dem gemeinschaftlichen Projekt "Bordering memories" mit dem finnischen Turku, der zweiten Kulturhauptstadt 2011, und Sankt Petersburg, soll unter anderem auch das Russische Kulturzentrum Tallins renoviert werden. "Das Kulturjahr 2011 bietet die Möglichkeit zu zeigen, dass Estland viele Gesichter und Sprachen vereint", stimmt auch der Direktor des Russischen Theaters, Marek Demjanov, in den Reigen ein. Trotzdem hätten sich laut Aleksandr Iljin, dem Direktor des Russischen Kulturzentrums, die Beziehungen seit den Krawallen im April auch im kulturellen Bereich deutlich verschlechtert.

2011: Modernität injizieren

Aber "Folklore hat in Estland eine andere Bedeutung als in Westeuropa", verteidigt Sundja. "Wir lassen die Tradition aufleben, aber jetzt, da wir frei sind, beginnen wir das Alte abzuschütteln", pflichtet auch Ristal bei. 2006 hat sie den mittlerweile überall erhältlichen Design-Stadtplan für Tallinn im Rahmen des Designjahres (2006/07) entworfen, der Touristen aus aller Welt das moderne Gesicht Tallinns zeigt. Eine erweiterte Version ist für 2011 in Planung. "Die meisten Anlaufpunkte der Design-Map liegen in der Altstadt", erklärt Eve. "Aber sie sind in einem neuen Blickwinkel dargestellt: ein entschlossener Schritt, der Neues auf Altem aufbaut."

Viele Projekte folgen der Tendenz, Modernität in bereits Bestehendes zu injizieren. Die komplette Küstenregion, ein Fabrikgelände, das zu Sowjetzeiten nicht zugänglich war, wird bis 2011 zur Kulturmeile umgestaltet; ein düsteres Heizkraftwerk, das 1979 die Kulisse für Andrei Tarkovskys Film Stalker bildete, verwandelt sich in eine moderne Kulturfabrik. "Tallinn ist in ständiger Bewegung. Man kann nach 5 Jahren - ach was - nach einem halben Jahr hierher zurückkehren, und die Stadt ist nicht wiederzuerkennen", übertreibt Ristal in ihrem Eifer. "Wir sind klein, aber dynamisch. Wenn wir eine Idee haben, steuern wir einfach darauf los. Das ist unsere Arroganz - im positiven Sinne. Als würde man surfen…wir folgen einfach dem Strom." Unaufhörlich wird Tallinn innerlich brodeln, um sich für 2011 nach außen als "Wunderland" zu präsentieren.

Mit Dank an Zeidy und Taivo Metsa.

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