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Staatsbürgerschaft in Estland: ungeklärt

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KulturGesellschaft

Ein moderner, fortschrittlicher EU-Mitgliedsstaat, in dem Unterschiede in Sprache, Kultur und Bildung Esten und russische Minderheit voneinander trennen.

Fast alle Straßenhändler und Taxifahrer, denen ich im Zentrum Tallinns begegne, sprechen Russisch. Daneben schieben sich die Touristenmassen wie Ameisen über das Kopfsteinpflaster der alten Straßen und setzen sich in den ungezählten Straßencafés fest. Während der zwei Jahrzehnte seit Perestroika und der "Singenden Revolution" ist Estland zu einem wohlhabenden und zukunftsträchtigen Mitglied der Europäischen Gemeinschaft geworden. Sein Stolz auf die eigene Identität und Unabhängigkeit ist durch nichts zu erschüttern.

Einige Monate nach den April-Protesten bietet sich ein entspanntes Bild, wo einmal das bronzene Soldatendenkmal stand, das vom Zentrum auf einen Militärfriedhof verlegt wurde. Es gibt wenig Hinweise auf die Ausschreitungen, die Tallinn erschütterten, einen diplomatischen Krach mit Moskau provozierten, Proteste auslösten, dazu einen Todesfall, 135 Verletzte und 800 Verhaftungen. Welchen Platz soll die einheimische russische Minderheit - etwa ein Viertel der Bevölkerung - im nun unabhängigen Estland einnehmen angesichts dieser Erfahrungen und der Regierungsbemühungen, die estnische Sprache in den weiterführenden Schulen zu fördern? Hinter der Postkartenidylle der alten Stadt wirkt Estlands jüngste Geschichte eher wie eine Zuckerbäckerverzierung der Mietskasernen im brutalen Sowjet-Stil – Überreste eines vergangenen Zeitalters der Besatzung.

Clash of Cultures - eine Frage der Integration?

Heute leben etwa 110.000 russische Bürger (dementsprechend mit russischem Pass) dauerhaft in Estland. Nach der Unabhängigkeit beantragten viele Immigranten der Sowjetära die russische Staatsbürgerschaft. Trotzdem hat die große Mehrheit der Russischsprechenden entweder die estnische Staatsbürgerschaft beantragt oder sie blieb dauerhaft mit "ungeklärtem Status" in Estland. Die Größe dieser zweiten Gruppe nimmt seit der Unabhängigkeit zwar ab, sie steht allerdings immer noch für 9 Prozent der Bevölkerung.

Die Spannungen zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen könnten ihren Ursprung in der Weigerung der Minderheit haben, sich in die Gesellschaft zu integrieren – ein Reizthema überall in der EU. "Dies ist jetzt Estland und sie (der russische Teil der Bevölkerung) wollen sich nicht integrieren", so die Meinung einer Gruppe Einheimischer in einer Bar am Rand der Altstadt. Später am Abend diskutieren zwei Esten Anfang 20 an der Bushaltestelle über die Nachteile, die jemand ohne estnische Sprachkenntnisse hat. Auch sie teilen die Ansicht, dass es nicht viele integrationswillige Russen gibt.

Das Büro der Youth Union NGO an der Durchgangsstraße von Pärnu Mnt ist mit antirassistischem Pomp verziert. "Wir sind Russen – unsere Wurzeln, unser Erbe, unsere Literatur und unsere Geschichte - warum sollten wir das aufgeben?", fragen Igor Ivanov, 31, und Maia Meos, 42, die sich für die Rechte von Minderheiten und für Diskriminierungsfreiheit engagieren. Sie unterstreichen das Gefühl der einflussreichen russischen Minderheit, dass ihre Identität seit der estnischen Unabhängigkeit 1991 verdrängt worden sei. Dieser Hinweis auf den Clash of Cultures wird in Bezug auf die Proteste um den Bronzesoldaten verständlich – was für die eine Gruppe ein Symbol für den tapferen Kampf gegen die Nazis ist, erscheint der anderen als Wahrzeichen für die trostlosen Jahre der sowjetischen Besatzung.

Leidet die russische Minderheit bei der praktischen Bewältigung ihres normalen Alltags unter größeren sozialen Nachteilen? So verhindert oder zumindest hemmt die regierungsamtliche, diskriminierende Förderung des Estnischen den Zugang der wichtigen Minderheit zu Universität und Angestellten Berufen. Die Arbeitslosigkeit der 15- bis 24 Jährigen unter den Nicht-Esten liegt bei 29.4 Prozent, verglichen mit 9.5 Prozent bei den Esten selbst. "Man kann in einer russisch sprechenden Einrichtung Arbeiterjobs bekommen", erklärt Ivanov. Außerdem sei die Arbeitslosigkeit bei Angehörigen sprachlicher Minderheiten proportional höher. Laut der Amnesty International-Studie vom Dezember 2006 (Sprachliche Minderheiten in Estland: die Diskriminierung muss ein Ende haben) trage dies zu "gesellschaftlicher Isolation und einem erhöhten Risiko von Menschrechtsverletzungen" bei. "Viele aus dieser Gruppe werden effektiv daran gehindert, ihre wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu nutzen", so Amnesty weiter.

Citizen Kane

Die russische Minderheit nennt Estland ihre Heimat, sie hat einen estnischen Pass, kann aber viele der Vorteile (wie die Bewegungsfreiheit) nicht nutzen, die grundlegende Merkmale einer Mitgliedschaft in der Europäischen Union sind. Diese ungleiche Behandlung zeigt sich auch auf

dem estnischen Personalausweis, auf dem zwischen Esten und Nicht-Esten durch einen Buchstaben unterschieden wird. Die Kernaussage des EU-Vertrages mit der Forderung nach "Unity in Diversity" (Gemeinsamkeit in der Vielfalt) wird damit gewissermaßen zu einer Farce. "Sie sind eine Minderheit", bedauert ein koreanischer Auswanderer und ehemaliger Hochschullehrer, "aber eine, die hier geboren wurde".

Mit einer Zwangsintegration würde man nur Öl ins Feuer gießen. Eine wirksame Integration muss organisch wachsen und beides akzeptieren: die Vergangenheit genauso, wie die künftige gesellschaftliche Entwicklung.

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