
Sprechen Sie Indisch?
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Lilian PithanAap hindi bol jate hain? Sprechen Sie Hindi? Was in Nordindien ein alltägliche Frage ist, kann im Süden zur linguistischen Bombe werden. Denn das indische Sprachenkonzert ist nicht nur ohrenbetäubend und einzigartig, sondern auch politischer und religiöser Instrumentalisierung ausgesetzt. Eine "indische" Sprache gibt es dabei nicht - sondern mehr als vierhundert.
Hindi? Natürlich kann ich Hindi. Tum murkh ho! Bist du blöd. Ajoy mokiert sich einmal mehr über die staunende Dummheit der Europäer, während er betont lässig an seiner Zigarette zieht. Eigentlich spreche er häufiger Bengali, schließlich käme seine Mutter ja aus Kalkutta. Aber er sei in Jharkhand und Delhi aufgewachsen, könne daher auch Hindi: Mein Sprachniveau ist aber ziemlich peinlich, meint er noch im gleichen Atemzug. Doch seine Muttersprache sei natürlich Englisch. Wenn er schreibt, dann nur in der Sprache Shakespeares und Fitzgeralds, mit Anklängen an die Poesie der Romantiker und amerikanische Songlyrics. Doch auf den Straßen Delhis ruft, jauchzt und redet er ganz selbstverständlich auf Hindi. Und für meine noch ungeübten Ohren klingt sein Akzent auch ziemlich gut. Zumindest die vielen T's, d's und Dh's, an denen ich regelmäßig verzweifele, hat Ajoy ganz sicher drauf. Saab kuch clear hai? Alles klar?
Sag mir, was du sprichst, und ich sage dir, wer du bist. In Indien funktioniert diese einfache Gleichung meist nicht: Zwar können viele der Sprachen, die von den 1,2 Milliarden Indern gesprochen werden, geografisch verortet werden. Aber bei mehr als 4000 Ethnien, sich unablässig bewegenden Bevölkerungsmassen und täglich gelebter Multilingualität muss man häufig genauer hinhören, um in dem Sprachgewirr eine bekannte Vokabel zu erhaschen. Es fängt schon bei der Zahl der Sprachen an: Der indische Zensus von 1991 zählte 1.576 „mother tongues“ oder „Muttersprachen“. Der People of India Bericht des Anthropological Survey of India, der Dialekte weitgehend außen vor lässt, hingegen kommt auf nur 325 Sprachen. Doch ob nun 1.600 oder 300 - eine ganze Menge sind das auf jeden Fall.
Umso lustiger erscheint da die Frage vieler Europäer: Sprechen Sie auch Indisch? Ob damit locker aus dem Handgelenk geschüttelte Gebärdensprache, das weit verbreitete Kopfgewackel oder vielleicht doch Hindi gemeint sein soll? Einen Inder, der einen Engländer oder Franzosen fragt, wie denn Europäisch klinge, muss man auf jeden Fall lange suchen. Natürlich gibt es so etwas wie Indisch nicht, lacht Ajoy. Von den indischen Sprachen seien 73% indo-iranischen Ursprungs und also direkt mit den europäischen Idiomen verwandt. Bei 24% handele es sich um dravidische Sprachen und der Rest falle in die Kategorien austroasiatisch, tibeto-burmesisch, europäisch und sonstige. Und dann gibt es natürlich eine nicht zu vernachlässigende Anzahl Inder, die Englisch, Portugiesisch oder Französisch auf muttersprachlichem Niveau beherrschen – Sprachen, die Relikte der Kolonialgeschichte sind und heute ganz selbstverständlich zum linguistischen Alltag zählen.
Hindi ist dabei die mit Abstand verbreitetste Sprache: Ihr Einflussbereich, der oft als Hindi belt bezeichnet wird, zieht sich von Rajasthan im wüstenhaften Westen bis an die östlichen Grenzen von Bihar und Jharkhand, umfasst also fast den gesamten Norden und einige Teile Zentralindiens. Das kommt auch daher, dass Hindi nur ein Sammelbegriff ist, der viele weitere Sprachen wie Rajasthani, Bihari und Urdu mit einschließt. Bis zur Unabhängigkeit Indiens im Jahr 1947 waren Hindi, Hindustani und Urdu austauschbare Bezeichnungen, die alle die gleiche Sprache beschrieben. Hindi zeichnete sich dabei durch einen größeren Einfluss des klassischen Sanskrit aus, wohingegen Urdu bzw. Hindustani sich am Persischen und Arabischen orientierte. Wirklich unterschiedlich waren die Sprachen aber nicht, bis sie dann im Zuge der Teilung in Indien und Pakistan 1947 zu politischen und religiösen Zwecken instrumentalisiert wurden. Ein Nordinder und ein Pakistani verstehen sich aber auch heute noch. Nur auf dem Papier gibt es Probleme, denn Hindi wird – wie schon das klassische Sanskrit – mit dem Devanagari-Alphabet, Urdu aber mit arabischen Buchstaben geschrieben.
Als ich anmerke, dass es doch von einer beträchtlichen sprachlichen Intelligenz der Inder zeuge, dass sie so viele Sprachen beherrschten, hält Ajoy wieder dagegen. So kann man das nicht sehen, viele Inder sprechen nur eine Sprache und mit den Englischkenntnissen ist es auch nicht so weit her. Ihr Europäer mit euer ewigen Verallgemeinerungswut! Trotzdem ist die Mehrsprachigkeit weit verbreitet, da viele Inder sowohl eine Sprache im Familienkreis, als auch ein oder zwei Regionalssprachen und Englisch sprechen. Da außer letzterer aber keine Sprache allgemein verbreitet ist, scheint Artikel 343, Absatz 1 des indischen Grundgesetzes von 1950 umso unverständlicher: „Die offizielle Sprache der Union ist Hindi in der Devanagari-Schrift.“ Was die indischen Staatsgründer im Bewusstsein der Notwendigkeit einer grundlegenden politischen, ethnischen und religiösen Einigung ihres Landes festlegten, führte im Süden schon 1937 zu auch gewaltsamen Auseinandersetzungen. So stieß die linguistische Festlegung vor allem in Tamil Nadu auf konsequenten Widerstand. Zum Glück hatten die Staatsväter aber noch das Englische als zweite offizielle Sprache vorgesehen, auf das seitdem auch regelmäßig ausgewichen wird.
Auf Regionalebene kann jeder Einzelstaat der Union abweichende offizielle Sprachen festlegen. Insgesamt gibt es 22 anerkannte Regionalsprachen, die im 8th Schedule, einem Verfassungszusatz, aufgelistet sind und oft als ein weiterer Beweis für die bunte Vielfalt Indiens zitiert werden. Tum samjh ti ho? Ajoy lacht und dekliniert den Satz in allen ihm bekannten Sprachen durch. Hast du das kapiert? Während ich zum hundertsten Mal versuche, den Unterschied zwischen Dal und dal, zwischen main und mai hörbar zu machen, kauft Ajoy eine neue Schachtel Zigaretten, ruft einem Freund auf der anderen Straßenseite etwas auf Bengali zu und meint schließlich so cool, wie das nur auf Englisch klingen kann: Shall we take off? Wir gehen zum Konzert einer befreundeten Band, auf dem sich Delhites und andere Inder, Iraner, Bangalen und Ausländer treffen. Die meisten gleiten wie selbstverständlich in einem Nebensatz ins Englische oder in andere Sprachen ab, denn sprachliche Berührungsängste kennt hier keiner. „Indisch“ ist das aber trotzdem nicht – sondern linguistisches Multi-Tasking auf allen Kanälen. Saab kuch clear hai?
Translated from Do You Speak Indian?