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Simon Wheatley, mit der Linse erzählen

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BrunchKultur

Simon Wheatley ist Fotograf der berühmten Agentur Magnum, die dieses Jahr ihren 50. Geburtstag feiert. Ein Gespräch über Rassismus und den Krieg in Frankreichs Vororten.

Ich habe noch genau fünf Minuten, um pünktlich zum Tay Do Café zu kommen. Dort will ich Simon Wheatley treffen, den außegewöhnlichen Fotografen der internationalen Fotoagentur Magnum. Eilig schlängele ich meinen Weg zwischen den vielen Passanten hindurch, bis ich von einem Mann aufgehalten werde, der vor mir geht. Er trägt einen roten Fleecepulli, die Hände stecken tief in den Taschen und die Ellbogen schwingen rhythmisch im Takt seiner Schritte. Als ich meine Schritte verlangsame und mich vorsichtig umsehe, erkenne ich das Gesicht unter der roten Kapuze. „Simon Wheatley?“ Er lächelt, ich stelle mich vor, und er klopft mir auf die Schulter. Damit hat unser Gespräch bis zum Restaurant erstmal genug Stoff.

In einem kleinen vietnamesischen Restaurant im Osten Londons blättern wir uns auf der Suche nach Nudelsuppe durch die Speisekarte. Schon bei unserem ersten Kontakt via Mail hat sich herausgestellt, dass wir beide südostasiatischer Herkunft sind und zum Frühstück liebend gerne dicke Reisnudeln aus einer großen Schale Brühe fischen. Er stellt die erste Frage. „Erzähl mir von dir.“ Jetzt bin ich plötzlich der Befragte, und kurz erkläre ich, dass ich vietnamisch-deutsche Wurzeln habe. „Was genau weißt du über mich?“, forscht er dann nach. Dass er ein Magnum-Fotograf ist, der sich darauf spezialisiert hat, sozial benachteiligte gewalttätige Jugendliche zu fotografieren, antworte ich. Danach komme ich schließlich dazu, meine erste Frage zu stellen: „Warum Fotografie?“

„Fotografie hilft mir, ein einfacherer Mensch zu sein“, erklärt er. Ursprünglich wollte er Schriftsteller werden. Aber er fühlte, dass er seine eigenen Ideale nicht erfüllen können würde. „Als ich Gabriel Garcia Marrquez las, dachte ich, so etwas könnte ich nicht. Zum Fotografieren habe ich mehr Talent.“ Das neue Interesse hieß jedoch nicht, das alte aufzugeben: „Ich will ein Autor sein. Ich will meine Geschichten erzählen. Ich bin nicht glücklich, meine Bilder in einem Magazin zu sehen.“

Derzeit arbeitet er an einem Buch, das sich aus Fotos zusammensetzt. Thema sind benachteiligte Jugendliche aus Sozialsiedlungen in London. Seit 1998 arbeitet er mit den Londoner Kids zusammen und hat gesehen, wie aus verspielten Kindern problematische Halbwüchsige werden. Jene Jugendlichen, die der französische Innenminister Nicolas Sarkozy als kriminellen Abschaum“ bezeichnete und dafür in ganz Europa heftig kritisiert wurde.

Wheatleys mikrokosmischer Blick in die Welt der als asozial Gebranntmarkten ist sein Versuch, die Sicht geradezurücken, der Sensationslust der Presse für dieses städtische Phänomen etwas entgegenzusetzen. „Ich denke, dass das Schwinden der Gemeinschaften vor Ort bedeutend ist. Die wilde Jugend gibt es in Holland, Frankreich – sogar in London ist es nicht einfach.“

Andere Länder, andere Welten

Wir sprechen gerade über die Unterschiede zwischen europäischen Jugendlichen, als zwei dampfende Schalen Suppe auf den Tisch kommen. Er löffelt mehr und mehr Chilli in seine Suppe und redet dabei über die Jugend in Holland. Der Islam gebe vielen „mehr Hoffnung, es gibt ihnen ein sicheres Netz“, sagte er. In England sei die Situation ähnlich. „Eigentlich sind sie Kriminelle. Sie sind Muslime, aber sie sind keine guten Muslime. Sie stehlen und sind den ganzen Tag auf Drogen. Aber sie haben etwas, womit sie über sich selbst wachen.“ Für viele gehe aber auch diese Unterstützung verloren, beispielsweise in christlichen Familien.

Während das religiöse Auffangnetz in den muslimischen Gemeinden noch mehr oder weniger funktioniert, hängt es in Frankreich in Fetzen, zerissen von einer multikulturellen Front gewalttätiger Jugendlicher, die soziale Ungerechtigkeit und der Rassismus des Alltags in Rage gebracht haben. „Frankreich ist ein heilloses Durcheinander, Mann! Da drüben herrscht Krieg. Drogen und Gewalt sind nur ein kleiner Ausschnitt aus der Situation in den Banlieues (Vororten).“ Er erzählt mir von einer jungen Frau, die einen jungen französischen Algerier hartnäckig ignorierte – obwohl er sie jedes Mal grüßte, wenn er das Ausbildungsamt betrat. Wheatley ist so gefangen von seiner Erzählung, dass er zu essen vergisst. Seine Suppe steht da, kalt.

Seine Monologe zeugen von seiner Hingabe für diese Jugendlichen. Da ist eine Nähe, die schädigend sein kann für einen Fotografen, der sein Leben fortführen und ihre Welt unvermeidlich verlassen muss. Doch nur durch seine ehrliche Neugier und sein aufrichtiges Interesse an ihren Geschichten gelang es ihm, in ihr Leben vorzudringen.

Die Geschichten dieser Jugendlichen sind Geschichten von Menschen, weit entfernt von der abstrakten politischen Debatte, die derzeit im Französischen und Britischen Fernsehn geführt wird. Er weiß, dass sie genau das sind: Geschichten, eingefangen durch die Linse eines Menschen, der nur ein paar Jahre mit diesen Jugendlichen verbracht hat. Er bezeichnet sich selbst als „Joker“. Er ist kein Experte, der lang und breit über statistische und soziologische Untersuchungen reden könnte. Und vielleicht ist gerade das der Blickwinkel, den diese Kinder brauchen.

Es liegt in der Natur seiner Arbeit, auch die Musikszene der Jugendlichen zu erforschen. Dadurch sind kleine Foto-Agenturen auf ihn aufmerksam geworden, die sich auf Werbekunden spezialisiert haben. „Ich habe mit einigen von ihnen gearbeitet, aber sie haben mich als Fotograf nicht verstanden. Sie denken, dass meine Arbeit ‚cool’ ist. Aber sozialer Zerfall ist nicht cool. Ich interessiere mich für Hiphop und Jazz, weil diese Musik die Stimme der Besitzlosen Amerikas war. In London spielt Musik auch eine große Rolle, aber das ist eher zufällig. Mein Interesse für die Musik der Großstadtist ein Versuch, das Vakuum der Gesellschaft zu erforschen, die Musik zur einzig legitimen Inspiration für einen Großteil der Jugend macht.“

Und doch ist es gerade diese Interesse für soziale Themen, das ihn zu Magnum gebracht hat. Die Fotografen dort „interessiert nicht, was cool ist“. Es ist die perfekte Lizenz für ihn, den Globus nach Geschichten zu erforschen, die ihn bewegen. Jetzt ist Simon Wheatley in Asien, auf der Suche nach anderen Geschichten. Um zu erzählen.

Nächste Woche befragen wir den ehemaligen Fußball-Star Jean-Pierre Papin über sein Leben als Trainer der RC Strasbourg.

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Translated from Simon Wheatley – ‘Photography helps me be a simpler person’