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Minztee mit der Kriegsfotografin Sandra Calligaro in Paris

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Für den Westen steht Afghanistan für "Krieg". Für die französische Fotografin Sandra Calligaro bedeutet es "Heimat". Seit fünf Jahren lebt sie in Afghanistan. Ein Gespräch über Fotografie, Vorurteile und das Erwachsenwerden.

Schon bevor man sie trifft, glaubt man zu wissen, wie sie aussieht. Geschunden, müde, in dunkles Tuch gehüllt. Den Krieg, so viel ist sicher, wird man ihr ansehen, all die Jahre, verbracht zwischen Bomben und Fremden. Sandra Calligaro ist Fotografin, 30 Jahre alt. Seit ihrem 25. Lebensjahr lebt sie in Afghanistan. Es gibt eine Homepage von ihr: Die Bilder zeigen dünne Menschen, zerstörte Häuser, Berge, Sand. So hat man es sich vorgestellt. Erst wenn man Sandra trifft, versteht man, dass man nichts weiß. Nicht über ihren Beruf und erst recht nicht über Afghanistan. Über ihr Land.

In Wahrheit sieht sie immer noch aus wie die Kunststudentin, die sie einmal gewesen ist. Die Augen dunkel umrandet, die Haut blass. Ein schwarzer Pullover, eine Jeans, neonfarbene Turnschuhe. Sie hat ein paar Tage mit ihrer Familie verbracht, sich eine Überdosis Wein und Käse gegönnt, erzählt sie vergnügt, und eine Ausstellung besucht. „Alles, was ich in Kabul nicht machen kann“, sagt sie und lacht. Sie lacht ständig während des Gesprächs, und wenn sie nicht Minztee trinken würde, während alle Pariser um sie herum Café bestellen - sie wäre eine von ihnen.

Einmal Kriegsfotografin sein

Was machst du in diesem gottverlassenen Land, möchte man sie fragen. Was zur Hölle hat dich dorthin getrieben? „Ein Freund meinte, Afghanistan sei gut zum Arbeiten.“ Das war 2007, gerade hatte sie ihren Abschluss in Fotografie an einer Pariser Universität gemacht. „Ich war so jung“, meint Sandra, „neugierig, ängstlich, aufgeregt.“ Sie streicht sich die schwarzen Strähnen aus dem Gesicht, ihr Blick scheint in die Ferne zu schweifen. Einmal Kriegsfotografin sein – hatte sie nicht schon immer davon geträumt? Also kaufte sie sich ein Ticket und flog nach Kabul.

Kabul, 2011

„Ich erinnere mich an das Licht. Sonne, Hitze, Staub.“ Es war ein heißer Märztag. Drei Dinge kannte Sandra in Kabul: Die Nummer eines Taxifahrers, der Französisch sprach, ein Hotel, in dem Ausländer sicher waren, und ein Restaurant, wo sich abends Journalisten trafen. Ein Abenteuer war das für sie, eine Schnitzeljagd. Einen Monat wollte sie bleiben, nicht mehr. Es wurden fünf Jahre.

Afghanistan, sagt sie, ließ sie wachsen. Nur durch dieses Land wurde sie alles, was sie heute ist: Fotografin, Journalistin, eine erwachsene Frau. In den ersten Tagen hatte sie sich gefürchtet, alleine das Haus zu verlassen. Nach einigen Wochen sprach sie bereits etwas Dari, den afghanischen Dialekt des Persischen. Sie wollte das Leben zeigen, gute Nachrichten in die Welt schicken, statt immer nur Tod und Verderben. Sandra begleitete Heroinsüchtige in einer Entzugsklinik und beobachtete die ersten freien Wahlen. Mit dem Taxi fuhr sie durch das Land, auf dem Rücksitz, gehüllt in eine Burka. Vorsichtig presste sie ihre Kamera gegen die Scheibe. “Nie zuvor habe ich Landschaften fotografiert”, erzählt sie. „Aber diese war schöner als alles, was ich bisher gesehen habe.“

Sandra lernte die Sitten des Landes: Eine Frau spricht leise, sie sitzt still, gibt Männern nicht die Hand. Doch man habe sie nie abgewiesen, nie schlecht behandelt – im Gegenteil. „Die afghanische Kultur ist die gastfreundlichste, die mir jemals begegnet ist.“ Sie reiste, lebte, fand ein Zimmer in Kabul, fand Freunde; westliche und einheimische. Sandra verkaufte ihre Bilder an Le Monde und Paris Match. Afghanistan wurde ihr Lebensmittelpunkt. In Paris war sie nur noch wenige Monate im Jahr, um ihre Eltern und Freunde zu besuchen.

Kabul: „meine Stadt“

Sie spricht über dieses Land wie über jedes andere. Sie nennt Kabul „meine Stadt“, sagt, sie sei froh, wenn sie die Berge überfliege und die Landung bevorsteht. Für uns bedeutet Afghanistan Krieg. Für sie bedeutet es tatsächlich Zuhause. Am nächsten Tag wird Sandra Paris verlassen und zurückfliegen. „Ich freue mich“, sagt sie und lächelt.

Wenn man Sandra Calligaro trifft, lernt man drei Dinge kennen: Sie, Afghanistan und auch sich selbst. Sandras Erzählungen wischen die Fernsehbilder weg, die Vorurteile, das Gefühl, die eigene Welt sei die einzig mögliche.

Wenige Wochen später wird Afghanistan Kopf stehen: US-Soldaten haben versehentlich einen Koran verbrannt, und die Wut vieler Afghanen entlädt sich in Gewalt.

Sandra hatte es vorausgesehen. „Etwas hat sich verändert“, sagte sie, „seit etwa zwei Jahren.“ Es würde immer deutlicher, dass die NATO versagt. „Wenn du einen Afghanen fragst, was Demokratie für ihn bedeutet, wird er dir antworten: Korruption.“ Das einzige Mal an diesem Morgen blickt sie zu Boden, stockt. „Es wird einen Bürgerkrieg geben.“

Sie kehrt trotzdem zurück, für dieses Mal. Kein Ort auf dieser Welt, sagt Sandra, habe sie jemals so sehr berührt. Wohin sie danach auch gehen wird, sie habe in Afghanistan für das ganze Leben gelernt. Was genau? „Dass man nicht an der Oberfläche bleiben darf“, sagt sie. „Wer etwas kennenlernen will, muss tiefer graben.“ Es klingt wie eine Losung. 

Fotos: ©Sandra Calligaro