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Lieber Romano Prodi...

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Die Europäer wählen, doch Europa geht es schlecht. Offener Brief an Romano Prodi, den Präsidenten der Europäischen Kommission.

Lieber Romano Prodi,

Zugegeben, ich weiß nicht, wieso ich ausgerechnet Ihnen schreibe. In diesen Tagen des Urnengangs habe ich jemanden gesucht, der die Europäische Union verkörpern könnte, jene berühmte "Telefonnummer", die Henry Kissinger unter Berufung auf ein höchst einfaches Prinzip einforderte: accountability, die demokratische Verantwortlichkeit. Gewiss, ich hätte genauso gut an Bertie Ahern, den irischen Premierminister, schreiben können. Aber nach sechsmonatiger Tätigkeit wird dieser sich wieder verabschieden, ohne viel für Europa getan haben zu können. Oder an Valéry Giscard d’Estaing, Vorsitzender eines Konvents, dessen Aufgabe es war, eine „Verfassung für Europa“ aufzusetzen. Aber auch der ehemalige französische Staatspräsident hat sein Mandat beendet, ohne dass im Übrigen die Verfassung angenommen worden wäre. Deshalb wende ich mich also an Sie. Denn genau genommen haben Sie immer versucht, sich die — auch medienwirksame — Rolle eines regelrechten "Präsidenten" Europas zurechtzuschneidern. Ich hoffe nur, dass Sie trotz Ihres Engagements als Kopf der linken Mitte in Italien ein paar Minuten für eine Antwort aufbringen werden können.

Paradox: Europa liegt darnieder

Verehrter Herr Präsident, Europa liegt danieder. Zwischen 10. und 13. Juni waren 350 Millionen Europäer für die weltweit größte transnationale Wahl zum Urnengang aufgerufen, und die Wahlbeteiligung erreichte nichteinmal die 50 %-Schwelle. Ein schon jahrelanger Trend hat sich somit erneut bestätigt. Wie ist dies zu erklären?

Scheint es Ihnen nicht paradox, dass, je mehr das Europa-Parlament Befugnisse hinzugewinnt, desto mehr die Stimmenthaltung ansteigt? Dabei sollte doch das Gegenteil der Fall sein: mit Nationalstaaten in der Krise und einem Europa, das immer einschneidender in unsere Leben eingreift, müsste das Interesse der Öffentlichkeit eigentlich steigen. Stattdessen geht es zurück. Und zwar im freien Fall.

Scheint es Ihnen nicht paradox, dass sich, je mehr Herausforderungen auf die EU zukommen, desto mehr ein Gefühl der Abneigung und der Apathie breit macht? Ich glaube nicht, dass Sie mir widersprechen werden: die Klimaerwärmung, die Wirtschaftskrise, von der die Euro-Zone erfasst wird, die Reform des Sozialstaats, die Probleme des Welthandels, der EU-Beitritt der Türkei, die Überalterung der Bevölkerung, die Krise in der Forschung sind alles Probleme, deren Lösung nur auf europäischer Ebene zu suchen sein wird.

Scheint es Ihnen nicht paradox, dass es den Europäern trotz der Schaffung einer Einheitswährung, der Verwirklichung der größten EU-Erweiterung der Geschichte und des Aufsetzens einer gemeinsamen Verfassung, trotz all dieser Erfolge also nicht gelingt, sich in eine Konstruktion Europas eingebunden zu fühlen, die nun schon seit mehr als fünfzig Jahren im Gange ist?

Mehrheit und Opposition

Die Verantwortung für dieses Stocken tragen auch Sie, verehrter Herr Präsident. Wie auch die gesamte europäische Führung, deren Vertreter Sie sind, im Guten wie im Schlechten. Zwei grundsätzliche Dinge sind versäumt worden:

1) Der Öffentlichkeit hätte eine Bilanz der von Ihnen geleiteten Kommission über die fünf bisher intensivsten Jahre der Konstruktion Europas vorgelegt werden müssen. Eine Bilanz, die Sie verteidigt und dem Kreuzfeuer der Kritik ausgesetzt hätten. Eine Bilanz übrigens, auf die Sie auch stolz hätten sein können, aber über die nur sehr wenige gesprochen haben.

2) Regelrechte Regierungsprogramme für die kommenden fünf Jahre hätten ausgearbeitet werden müssen. Nicht 2500 Programme für hunderte von Parteien und Kleinstparteien der 25 Mitgliedsstaaten, sondern, in bester angelsächsischer Tradition, realisierbare Programme, geeignet, Männer und Frauen unterschiedlicher Sprache und Herkunft zusammenzuschließen, denen ein gemeinsames Ziel am Herzen liegt: die Mitgestaltung der Zukunft des Systems Europa. Die traurige Realität hingegen sieht anders aus: nur hohle und nutzlose Debatten ausschließlich nationalen Zuschnitts.

All das hätte Gegenstand einer offenen und vielsprachigen Debatte sein sollen. Einer Debatte über die nationalen Grenzen hinweg, die uns noch trennen. Ein Traum ? Vielleicht, aber zu seiner Verwirklichung ist nichts von unseren führenden EU-Politikern beigetragen worden.

Ihr Europa und jenes der Giscard d’Estaings, der Bertie Aherns, der Berlusconis, der Zapateros und der Kwasniewskis ist zu „national“, zu halbherzig und zu allergisch gegen diese Art „höchstkomplizierter“ demokratischer Praktiken. Nein, verehrter Herr Präsident, ich weiß nicht, wieso ich ausgerechnet Ihnen geschrieben habe.

Translated from Egregio Presidente Prodi...