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Kunst auf der Schlachtbank

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Anna Karla

KulturPolitik

Der Pariser Parc de la Villette ist eine der ersten Kulturfabriken Europas. Hier versammeln sich Kunst, Musik, Wissenschaft und Technik.

„Hier waren früher die Schlachthöfe.“ Mit einem Zigarettenstummel weist der 68jährige Raymond auf die weiten Rasenflächen hinter der Veranstaltungshalle am Eingang. Er wohnt seit Jahrzehnten im Quartier und macht im Park seinen Sonntagsspaziergang.

„Jeden Tag kamen Lastwagen voll mit Rindern an. Es war immer etwas los. In den Cafés rundherum wimmelte es von Leuten.“ Heute ist von geschäftigem Treiben nichts zu spüren, nur vereinzelt trifft man Spaziergänger. Jugendliche flitzen auf Fahrrädern umher. Auf der Wiese hinter der großen Halle wird Fußball gespielt.

Wer an der Station Porte de Pantin im Pariser Nordosten aus dem Untergrund emporsteigt, kann den Parc de la Villette nicht verfehlen. Gegenüber dem Metroausgang steht die zentrale Veranstaltungshalle, daneben empfängt ein rotes Informationshäuschen die Besucher. Rechterhand erhebt sich die kurvenreiche Fassade der Cité de la musique. Auf dem weiten Platz zwischen den Gebäuden sprudelt eine Fontäne.

Der Park erstreckt sich über 55 Hektar bis zum Stadtrand. Sein Angebot reicht von klassischer Musik über Tanz, Rockkonzerte und Freilichtkino bis hin zu Wissenschaft und Technik. Das in Europa einzigartige Ensemble aus Kultur und Natur entstand in den achtziger Jahren – auf dem ehemaligen Gelände der Schlachthöfe von Paris. Im Norden und Osten grenzt der Park noch heute an öde Bahnanlagen und brachliegende Industriebauten.

Von der Viehhalle zum Festivalsaal

Die Grande Halle ist ein Ort für Ausstellungen, Festivals und Messen. Sie ist eines der wenigen Gebäude im Park, das noch aus dem 19. Jahrhundert stammt. Mit ihren Eisenkonstruktionen, den verschnörkelten Stützen und den ins Metall eingelassenen Glasscheiben ähnelt sie mehr der Architektur des Eiffelturms als einem reinen Zweckbau.

Die Halle diente bis in die siebziger Jahre als Viehmarkt, bis zu 5000 Tieren passten hinein. Über hundert Jahre lang befanden sich hier der Markt und die Schlachthöfe für ganz Paris. Erst die modernen Kühlsysteme machten es überflüssig, die lebenden Tiere bis in die Stadt zu transportieren. 1974 wurde in La Villette der letzte Ochse geschlachtet.

Die politische Entscheidung fiel in den siebziger Jahren: Statt Kühen sollte Kultur den nordöstlichen Rand der Hauptstadt prägen. Die Umbauarbeiten begannen 1983. Schon ein Jahr später wurde die Konzerthalle Le Zénith eröffnet. Wenn eine französische Band hier auftritt, hat sie es geschafft. Nur wenige Jahre später folgten die Cité des Sciences et de l’Industrie und die Theater- und Konzertsäle.

Beim Rundgang durch La Villette meint man, in einem Führer der modernen französischen Architekturszene zu blättern. Christian de Portzamparc, Architekt des Pariser Kongresszentrums und der französische Botschaft in Berlin, entwarf die Cité de la Musique. Bernard Reichen und Philippe Robert verwandelten die Viehhalle in einen Ausstellungssaal. Von Bernard Tschumi stammen die Gestaltung des Parks und die verstreuten roten Häuschen, die als Orte der Information oder als Restaurants dienen.

Ein Aushängeschild für die französische Wissenschaft

Den Nordteil des Parks beherrscht die Cité des Sciences et de l’Industrie, Frankreichs Museum für Wissenschaft, Technik und Industrie. Von fern erinnert das Gebäude an einen überdimensionalen Legostein. „Der riesige Bau war Anfang der siebziger Jahre als Schlachthaus konzipiert worden“, erzählt Bruno Jammes.

Der Direktor der Mulitmediaabteilung des Museums zeigt bei einem Rundgang durch das 270 Meter lange Gebäude einige Spuren der Anfangszeit. „Im Untergeschoß sollten die Waggons mit den Rindern ankommen. Unter den Mitarbeitern heißt die Etage bis heute ‚niveau gare’.“ Als die Schlachthöfe geschlossen wurden, blieb der riesige Rohbau ungenutzt stehen, bis der Architekt Adrien Fainsilber ihn zu einem Museum ausbaute.

Über drei Millionen Besucher kommen jährlich in die Cité des Sciences. Die Wechselausstellungen behandeln aktuelle Themen, von Alzheimer bis zu Albert Einstein, von Haschisch bis zum Klimawandel. Mit einer Grundfläche von 75 000 Quadratmetern ist die Cité eines der größten Technikmuseen weltweit. Sie ist ein Vorbild für Projekte in ganz Europa, so vor kurzem für die Dauerausstellung der Wissenschaftsstiftung „Eugenides“ in Athen.

Bis 2010 soll ein letztes Relikt der Vergangenheit beseitigt werden: Bis heute liegt ein Viertel des Gebäudes brach. Die Dimensionen eines Schlachthauses sind selbst für die Cité des Sciences nicht zu bewältigen. „Es gab Pläne, eine Universität einzurichten oder andere Museen, aber nie ist etwas passiert“, berichtet der Veranstaltungsdirektor Frédéric Poisson.

Nun habe ein privater Anbieter Interesse an dem Gebäudeteil angemeldet: Die Firma Apsys wolle ein Einkaufzentrum einrichten, das auf Digitaltechnik spezialisiert ist. Kinos könnten dafür sorgen, dass nicht jeden Abend nach Museumsschluss am Stadtrand die „große Einsamkeit“ einsetze. „Wir sind in der Verhandlungsphase“, erklärt Poisson. „Ich hoffe, dass diesmal etwas daraus wird.“

Für den alten Raymond werden Kinosäle kaum etwas ändern. Ihm ist das ganze Gelände zu leblos: „Jetzt kommen Touristen, aber damals waren hier mindestens zehnmal so viele Leute unterwegs.“ Etwas Positives kann er dem Park dennoch abgewinnen. Als Klassikfan will er nach seinem Sonntagsspaziergang ein Konzert besuchen. „Die Cité des Sciences kann ich gar nicht leiden“, erklärt er kategorisch. „Aber ins Theater oder in die Cité de la Musique gehe ich schon öfter mal.“

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