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Jürgen Habermas über Europa: Vom "Ich" zum "Wir"

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Lukas Ley

Kultur

Der deutsche Philosoph Jürgen Habermas sinniert in einem Essay über Europa.

Es steht nicht gut um Europas Image: Die Politiker sind sich uneinig, die Völker stellen die EU infrage. Seit Brüssel drastische Sparmaßnahmen erzwungen hat, hören die Massendemonstrationen in Athen nicht auf. Der deutsche Philosoph Jürgen Habermas wandte sich jetzt mit einem Essay zur Verfassung Europas an die Öffentlichkeit. Der Aufsatz ist eine schallende Kritik an der heimlichen Autokratie der Staatschefs Angela Merkel und Nicolas Sarkozy. Gleichzeitig verspricht er aber auch Hoffnung.

Was viele für unmöglich halten, ist laut Habermas nicht allzu kompliziert - nämlich gleichzeitig Staats- und Unionsbürger zu sein. Genauestens schaut sich Habermas die Verfassung der EU an und stellt fest, dass ihre Gewaltenteilung den Bürgern schon heute weitreichende Mitbestimmungsrechte auf europäischer Ebene gibt. Nach Habermas ist der "Unionsbürger" keine Utopie oder Wunschdenken der EU-Gründerväter. Schon heute seien nicht die einzelnen Mitgliederstaaten bestimmend bei Gesetzesänderungen – sondern der EU-Bürger. Denn die Bürger werden durch Repräsentanten ihrer Regierungen im EU-Parlament und Staatschefs im Rat vertreten. So sieht es die Verfassung vor. Wer in Deutschland wählen geht, entscheidet also auch in Europa mit. Endlich sagt ein Experte das, was Politiker vergessen zu haben scheinen.

Europa ist ein Konflikt - aber kein unlösbarer

Viele stellen sich aber noch die Frage: Ist das Wohl Europas auch gut für mich und mein Land? Was geschieht, wenn sich Unions- und Staatsbürger mal nicht einig sind? Zum Beispiel wenn der nationale Haushalt Solidarität mit wirtschaftlich siechenden Mitgliedern nur unter eigenen Strapazen gewährleisten kann? Laut Habermas liegt hier ein Konflikt vor, aber kein unlösbarer. Die Verfassung wahre die Interessen des Unionsbürgers auf europäischer und nationaler Ebene. In einer Demokratie sei es normal, wenn man mal nicht die Meinung der anderen Bürger teile. Überhaupt müsse man als Deutscher auch ständig zwischen Bundes- und Länderinteressen abwägen. Die noch existierenden Demokratie-Blockaden auf EU-Ebene abzuschaffen, gelinge nur, wenn wir unsere Identität als neue EU-Bürger anerkennen würden. Dann würde unsere Solidarität als Bürger auch die "Angehörigen der jeweils anderen europäischen Völker" einschließen.

Grenzenlose Vernetzung und kulturelle Toleranz beeinflussten laut Habermas die Funktion der Politik. Zwar fördere der Staat Loyalitäten und Zusammengehörigkeitsgefühl - Habermas nennt ihn sogar eine "lebendige Gestalt einer existierenden Gerechtigkeit"-, er sieht jedoch die Möglichkeit, endlich aus dem Schatten des Nationalismus zu treten. Wir können auch mit Europa solidarisch sein. Wie schwierig es ist, diesen Rat zu befolgen, sehen wir in Zeiten der Krise. In einem gemeinsamen Interview mit dem französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy sagte Kanzlerin Merkel kürzlich, die Europäische Union sei ein "Prozess". Schon lange kann sich niemand mehr vorstellen, was damit gemeint ist - es scheint nur noch ums Geld zu gehen. Schön an Habermas' Essay ist, dass er kritisch auf das Verhaltens der beiden Staatschefs eineght: Merkel und Sarkozy schmieden seiner Meinung nach undurchsichtige Pakte und behandeln die Unionsbürger wie Unmündige.

Ein Buch für Experten

Was können wir von Habermas' Essay lernen? Vor allem, dass es schon heute verfassungsrechtlich möglich ist, echter Unionsbürger zu sein. Das eröffnet unendliche Möglichkeiten der demokratischen Mitbestimmung! Die Rolle der Öffentlichkeit ist laut Habermas zudem so zentral wie nie zuvor. Er will mehr Aufklärung: Die Bürger sollen wissen, dass ihre Interessen in der EU-Verfassung verankert sind. Der Anfang sei gemacht, doch weiterhin sei eine "populistisch geschürte Ablehnung des europäischen Projekts" zu beobachten. Warum zögern sowohl Mitgliederstaaten als auch Medien, uns als ein vereintes Europa sehen zu wollen?

Politische Bücher haben derzeit Konjunktur. Doch dass Habermas‘ Essay so populär wird, wie etwa die Streitschrift des französischen Schriftstellers Stéphane Hessel "Empört Euch!", ist nicht zu erwarten. Denn Habermas, dem häufig ein komplizierter Schreibstil nachgesagt wurde, hat erneut ein Buch für Experten geschrieben. Und entlarvt sich damit selbst: Einerseits bedauert er die "Asymmetrie" zwischen der politischen Klasse und der Teilnahmslosigkeit vieler EU-Bürger. Doch seine elitäre Sprache trägt nicht dazu bei, dies zu ändern. 

Jürgen Habermas, "Zur Verfassung Europas: Ein Essay"

(Foto: (cc)Helico/flickr)

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