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Jüdisches Leben in Budapest: Zwei Seiten einer Stadt

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GesellschaftEU-TOPIA ON THE GROUND

Drei Jahre nachdem Jobbik zur drittgrößten Kraft im Parlament wurde, wird der ultra-nationalistischen Partei erneut vorgeworfen, antisemitische Ressentiments zu schüren. Beobachter befürchten ein schleichendes Erstarken von nationalistischen und fremdenfeindlichen Diskursen.

Welche Chancen auf ein Wiedererwachen bestehen da für die jüdische Gemeinde Budapests, einer Stadt, die so vielen ihrer Vorfahren eine Heimat war?

Ich verlasse einen der breiten Budapester Boulevards, die an Paris erinnern, und tauche in die Düsterheit der Dob Utca ein. Das ist eine der Straßen des so genannten jüdischen Viertels. Es schließt auch das ehemalige Ghetto, das sich während des Zweiten Weltkriegs im VII. Bezirk befand, mit ein. In diesem Gebiet herrscht ein seltsames Durcheinander aus koscheren Restaurants, Second Hand Klamottenläden und Romkocsma. Die Architektur ist ein Gemisch aus reich verzierten verblassenden Fassaden und langweiligen grauen Wänden, von denen manche von Einschusslöchern übersät sind.

Jüdisches Viertel, Budapest

In Budapest findet man die größte Synagoge Europas - Eduard Deblinger erzählt mir aber, dass die jüdisch-orthodoxe Gemeinde heute nur noch ein paar Hundert Mitglieder zählt.Ist der Vorsitzende der Autonomen orthodoxen israelischen Gemeinde Ungarns also ein Hirte ohne Schäfchen? „Viele Orthodoxe reisen nach Israel, um ein religiöseres Leben zu führen. Und weil es hier schwierig ist, kommen sie nicht zurück.“, sagt Deblinger. „Wir haben viel orthodoxen Tourismus. Aber Ungarn steht ganz unten auf der Liste der Reiseziele, weil die Leute vom Antisemitismus hier hören.“

Skandale

Im November 2012, als Ungarn den Schock über die „Judenliste” eines Jobbik-Parlamentsabgeordneten noch nicht ganz überwunden hatte, sorgte ein weiterer Skandal für Aufmerksamkeit. Der Studierendenrat der Fakultät für Sozialwissenschaften der ältesten ungarischen Universität ELTE wurde überraschend suspendiert: Seine Mitglieder hatten mutmaßlich illegale Daten gesammelt, die herabwürdigende Bemerkungen über Studierende im ersten Semester enthielten. Die Beleidigungen reichten wohl von Beschreibungen des Aussehens von Mädchen oder „Hipstern“ bis hin zu bedenklichen Auflistungen ihrer politischen Überzeugung, sexuellen Orientierung und Religion (jüdisch oder nicht). „Dass die Fakultät zu einer Hochburg der Jobbik Partei wurde, haben viele Dozierende der Universität bewusst ignoriert oder verleugnet”, sagt Kristof Domina, Direktor des in Budapest ansässigen Athena Instituts. „Der Studierendenrat entscheidet, wer Zuschüsse für sein Studium bekommt. Die Frage ist, ob diese Leute benachteiligt wurden.”

L’chaim („Prost“ auf Hebräisch)

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Dieser jüngste Skandal fällt mitten in die Vorbereitungen zum Purimfest, das der Errettung der Juden im früheren Persien [laut der Tora versuchte ein Regierungsbeamter des persischen Königs, alle Juden der persischen Diaspora ermorden zu lassen, A.d.Ü.] gedenkt. Zu diesem Anlass hat die jüdische Jugendkulturgruppe Marom ein großes Fest im Siraly Café organisiert. Aus Trotz und Spott wurde hastig ein Dresscode aufgestellt: „Minderheiten, die auf der inzwischen berühmt-berüchtigten Liste des Studierendenrates auftauchen“. Für die Hauptzeremonie und die traditionelle Lesung aus dem Buch Esther (auch Megilla genannt) wird mir nur eine Anweisung gegeben: „Trink!“ Im verrauchten und engen Keller hält David Lazar, der extra angereiste Großrabbiner Stockholms, kurz inne, nimmt einen Schluck Wodka und singt dann weiter. Während der 45-minütigen Lesung, die gleichzeitig auf Ungarisch und auf Hebräisch stattfindet, nickt die versammelte Schar an jungen Budapestern zustimmend, unterhält sich mit Freunden, bestellt Bier und bricht ab und an in kollektive „Haman!“ Rufe aus, gefolgt von lärmenden Fußgetrampel und Pfiffen, jedes Mal, wenn der Bösewicht der Geschichte erwähnt wird.

Auf dem Purimfest, das oft als Karneval der jüdischen Feiertage bezeichnet wird, geht es traditionell heiter bis rauflustig zu. Die Party von Marom steht in krassem Gegensatz zur vergleichsweise ruhigen und sittsamen Atmosphäre in den Synagogen der Stadt. Das, sagt der Rabbi, sei genau der Punkt. „Im 21. Jahrhundert ist es sehr wichtig einzusehen, dass nicht alles jüdisches Leben in der Synagoge stattfindet. Diese fantastische Jugendgruppe hat einen Weg gefunden, ihre jüdischen Wurzeln, ihren Glauben und ihre Gebete mit sozialem Engagement in ihrem Land zu verbinden, das gerade harte Zeichen durchmacht.“

Shtiebels und Schuhe

Im Nationalsozialismus wurden Juden deportiert und ermordet. Auch im Kommunismus wurde die jüdische Gemeinde unterdrückt. Ist es die heutige Generation, die die jüdische Seele Budapests wieder beleben kann?

„Viele von uns sind ohne eine echte Verbindung mit unserer Identität aufgewachsen“, meint Lacko Bernath, der Geschichte studiert und bei Marom Mitglied ist. „Es ist eine Tragödie, dass du dich nur jüdisch fühlst, wenn du einen Nazi oder einen rechtsextremen idiotischen Politiker im Fernsehen siehst. Du kannst deine Identität nicht aus negativen Bezugsbildern ziehen. Wir arbeiten daran, das zu ändern.“ Andere Mitglieder sind vorsichtiger. „Es gibt schlimmeres als Jobbik, aber ich würde definitiv nach Israel fliehen, wenn sie an die Macht kämen“, so Bence Kovacs. Nach der Lesung werden die Tische und Schriftrollen weggeräumt. Ein DJ legt auf und das Publikum strömt auf die Tanzfläche, um dort weiter zu feiern. Einigen Interpretationen des Talmud zufolge soll man sich am Purimfest berauschen, bis man den Unterschied zwischen gut und böse nicht mehr erkennt. Die taumelnde Menge im Siraly übt sich bis in die früheren Morgenstunden in dieser Aufgabe.

Im heruntergekommenen aber sehr lebendigen VIII. Bezirk Budapests verbirgt sich der Eingang einer einzigartigen Synagoge in einem unscheinbaren Innenhof des Teleki Platzes. Von chassidischen Juden aus der Ukraine im späten 20. Jahrhundert erbaut, ist dieses kleine Gebetshaus oder „Shtiebel“ das letzte seiner Art. Es wurde von der jüdischen Gemeinde vor dem Verfall bewahrt. Heute wird auch hier das Purimfest gefeiert. Die frommen Gründer des Shtiebels wären stolz auf seine Instandsetzung, wenn bestimmt auch leicht geschockt darüber, dass sich alle verkleidet haben – ein Pirat begrüßt mich, während mir ein Alien einen Shot Palinka reicht. Überhaupt sei die Bezeichnung „jüdisches Viertel“ nicht ganz treffend, erklärt mir der Shtiebel-Vorsitzende Andras Mayer. „Diese Zuschreibung würde unsere Vorfahren beleidigen. Sie haben genauso in der Revolution von 1848 gegen die Österreicher gekämpft. Sie sahen sich als Ungarn mit jüdischen Glauben.“ Und was ist mit der Jobbik-Partei, deren Sitz sich nicht weit von hier befindet? „Das ist nicht nur ein jüdisches Thema. Jeder, der auch nur mit einem klein bisschen Menschenverstand und Bewusstsein für Demokratie gesegnet ist, sollte gegen sie sein.“

„Unsere Vorfahren sahen sich als Ungarn mit jüdischem Glauben”

Ein Nieselregen zieht über die Donau und in einem Kinderschuh am Ufer sammelt sich Wasser. Das Denkmal der „Schuhe an der Donau“ weckt ein zutiefst beunruhigendes Gefühl. Genau an diesem Ort wurden während des zweiten Weltkriegs jüdische Frauen, Kinder und Männer gezwungen, sich in einer Reihe aufzustellen und ihre Schuhe auszuziehen. Dann wurden sie von Bewaffneten der faschistischen Pfeilkreuzler erschossen, sie fielen in das langsam fließende Wasser der Donau und wurden dann von der Strömung fortgetragen. Heute ist es kein ungewöhnlicher Anblick, die Anhänger der Jobbik-Partei Fahnen und andere Insignien tragen zu sehen, die dem Pfeilkreuz auf unheimliche Weise ähneln. Es gibt durchaus ermutigende Zeichen des Engagements der jüdischen Gemeinde, mit alternativen und bunten Veranstaltungen. Wenn sich das Land allerdings nicht schnell mit seiner jüngsten Vergangenheit auseinandersetzt, so befürchten so manche in Budapest, riskieren die Stimmen, die zur Vernunft aufrufen, unterzugehen.

Besonderer Dank geht an Ráhel Németh von cafebabel.com Budapest, und an Nora Feldmar

Dieser Artikel ist Teil der ersten Ausgabe unserer Reportagereihe 'EUtopia on the ground', die uns jeden Monat in einer anderen Stadt von einem „besseren Europa“ träumen lassen wird.

Fotos: Teaser: (cc)archer10 (Dennis)/ Dennis Jarvis/Flickr; im Text: ©Hélène Bienvenu (s. Signatur) und ©Andrew Connelly

Translated from Jewish life in Budapest: A tale of two cities