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Jubeln für die EU

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Politik

Der Sport beweist es: Noch immer identifzieren sich die meisten Menschen mit ihrer Nation. Doch so natürlich, wie es scheint, ist das nicht.

In wenigen Tagen ist es wieder soweit: 2.500 Sportler marschieren zur Eröffnung der zwanzigsten Olympischen Winterspiele in Turin hinter den Flaggen ihrer 85 Nationen ins Stadion ein. Vom 10. bis zum 26. Februar bangen dann weltweit die Sportfans mit „ihren“ Athleten, und wenn am Ende zu Ehren der Medaillengewinner feierlich die jeweiligen Nationalhymnen gespielt werden, wird nicht nur den Geehrten manche Träne über die Wange kullern.

Dieses Spektakel wäre nicht halb so interessant, wenn man sich nicht wenigstens mit einem der Beteiligten identifizieren würde. Doch dies folgt nicht Sympathie oder Ästhetik, sondern einfach der gemeinsamen Nationalität.

Uns kommt das natürlich vor. Aber ist es das wirklich?

Bauer, Stadtbürger oder Adliger

Noch vor 200 Jahren war es das keineswegs. Auch damals haben sich die Menschen als Teil einer Gruppe empfunden und mit dieser identifiziert. Doch die Identifikation war flexibler; man konnte sich verschiedenen Gruppen gleichzeitig zugehörig fühlen: als Bauer, Stadtbürger oder Adliger, als Katholik oder Protestant, als Bewohner des einen oder des anderen Dorfes. Die Selbstdefinition bezog sich vor allem auf die gesellschaftliche Stellung.

Erst Ende des 18. Jahrhunderts kam eine Idee auf, die mit der Französischen Revolution in Europa verbreitet wurde: die Nation – als Interessengemeinschaft der Bürger eines Staates, die sich eine eigene politische Ordnung gibt. Die Identifikation mit der Nation sollte dabei wichtiger sein als die mit anderen Gruppen und alle Unterschiede ihrer Mitglieder überdecken. Der Erfolg dieses Gedankens führte dazu, dass später das Verhältnis umgedreht wurde: Die Nation war nicht die Interessengemeinschaft der Bürger eines Staates, sondern einer (angeblichen) ethnischen Gruppe, die sich durch die Neugründung eines eigenen Staates eine politische Ordnung geben wollte. Doch damit entstanden die Probleme, die wir noch heute kennen.

Bruder-Duell bei der WM

Zurück zur Olympiade. Sie zeigt auch, dass eine Einteilung in Nationen nach diesem Prinzip nicht „natürlich“ ist: Im Eishockey werden zwei Mannschaften, Tschechien und die Slowakei, aufeinander treffen, deren Spieler als Kinder gemeinsam einer tschechoslowakischen Mannschaft zugejubelt haben. Die kroatische Alpin-Skifahrerin Janica Kostelic wurde als Jugoslawin geboren. Dagegen kämpfen in den deutschen Mannschaften Sportler, deren Helden vor 16 Jahren noch gegeneinander antraten, nun gemeinsam um Medaillen.

Auch im Falle von Einwanderen ist nicht immer klar, mit welcher Nation ein Sportler sich identifiziert. So haben sich vor kurzem der türkische und der deutsche Fußballverband ein regelrechtes Wettrennen um den in Deutschland aufgewachsenen Spieler Nuri Sahin geliefert. Beide wollten den Sohn türkischer Eltern an ihr Land binden. Am Ende hat die Türkei wie schon zuvor in ähnlichen Fällen den Erfolg davongetragen. Dagegen spielen inzwischen mit Lukas Podolski, Miroslav Klose und Lukas Sinkiewicz drei Fußballer in der deutschen Nationalmannschaft, die auch für Polen hätten antreten können. Bei der Fußball-Weltmeisterschaft im Sommer 2006 wird es in Deutschland wahrscheinlich sogar zu einem richtigen „Bruder-Duell“ kommen: Salomon Kalou wird nach seiner geplanten Einbürgerung für die Niederlande spielen. Diese müssen in der Vorrunde gegen die Elfenbeinküste antreten, für die Salomons Bruder Bonaventure Kalou kickt.

Thüringen, eine erfolgreiche „Nation“

Doch warum funktioniert die Logik des nationalen Denkens trotzdem? Warum jubelt ein sizilianischer Zuschauer, wenn ein Skifahrer aus der Lombardei im Abfahrtslauf siegt? Und warum ärgert sich der Tiroler, obwohl er dem Lombarden doch räumlich viel näher ist als der Sizilianer? Auch andere Einteilungen wären denkbar. So kursierte bei der letzten Winterolympiade 2002 in deutschen Medien eine Version des Medaillenspiegels, in dem das Bundesland Thüringen als dritterfolgreichste „Nation“ geführt wurde. Warum gibt es also keine elsässische, schlesische oder katalanische Mannschaft? Oder eine Mannschaft, die die Europäische Union vertritt?

Die gemeinsame Sprache allein ist kein ausreichender Grund. Denn Deutschland und Österreich, die USA und Großbritannien bilden verschiedene Nationen, obwohl sie eine Sprache teilen. Genauso gibt es Nationen mit verschiedenen Sprachen, wie die Schweiz, Belgien oder Kanada.

Die Identifikation mit einer Nation wird vor allem von der Ausbildung in der Schule, besonders im Geschichtsunterricht, stark beeinflusst. Aber die Medien haben einen mindestens genauso großen Einfluss. Früher waren dies Bücher und Zeitungen, heute übt das Fernsehen die Funktion aus, ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu schaffen – besonders wenn es Sportereignisse wie die Olympischen Spiele und die Fußballweltmeisterschaft überträgt.

Doch vielleicht entwickelt sich auch einmal die Identifikation mit Europa weiter. Stellen wir uns vor: Franzosen jubeln englischen, finnischen oder ungarischen Athleten zu. Denn „ihr“ Sportler ist ausgeschieden. Und nun soll nicht ein US-Amerikaner oder Brasilianer gewinnen – sondern ein EU-Bürger.