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„Je me tiens devant toi nue“: Seelenstriptease im Theater der Märtyrer

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Brüssel

Von Lisa Kittel „Liebt mich“ flehen die vier Schauspielerinnen das Publikum an und offenbaren anschließend ausgewählte Abgründe unseres Menschseins. So werden im Théâtre des Martyres noch bis zum 31. März 2012 Urängste und Sehnsüchte in so peinlich privaten Momenten dargestellt, dass die meisten sie vor den engsten Freunden geheim halten würden.

Joyce Carol Oates, amerikanische Schriftstellerin, schildert in ihrem Stück „Je me tiens devant toi nue“ zehn Schicksale von Frauen in unserer heutigen Gesellschaft. Gleich zu Beginn werden die Zuschauer Zeugen eines verzweifelten Selbstgesprächs mit dem Spiegel. Dabei biedert sich die junge Schauspielerin in Großaufnahme beim imaginären Liebsten an, fährt mit der Zunge über ihre Lippen und spielt mit ihrem Busen: „Bin ich nicht sexy? Willst du mich etwa nicht?“

Darauf folgt die Story einer inhaftierten ehemaligen Lehrerin. Die Erwachsene, die einen 15-jährigen verführen wollte, fragt mit Scham und unter Tränen: „Hab ich etwa nicht auch mein kleines Stück Glück verdient?“ Weitere Porträts folgen: Eine Magersüchtige, eine militante Gläubige, ein totes Flittchen, eine Alte, schwanger und mit Suizidgedanken – kurz, Frauen, in denen es brennt, die sich nach Liebe verzehren und ihr Glück schließlich in den unterschiedlichsten Extremen suchen.

Die Schauspielerinnen, Natathlie Cornet, Jessica Fanhan, Mathilde Rault und Laura Vossen überzeugen in ihren mutigen Rollen und überraschen mit gekonnten Wandlungen in dem von Christine Delmotte inszenierten Stück. Letztere ist ebenfalls für das Bühnenbild verantwortlich. Es ist ihr gelungen, Filmsequenzen gezielt und mit dem Spiel abgestimmt, einzusetzen. So sieht der Schauspieler wirklich Ausschnitte, die er so auf der Bühne nicht erkennen kann, wie ein Blick nach unten oder das detaillierte Minenspiel der Protagonistinnen. Marta Makhoul, Zuschauerin, kann sich gut mit den Charakteren identifizieren. Am besten mit jener Frau, die von ihrem Mord und ihrem lasterhaften Leben erzählt, welches sie auf der Bühne noch einmal zu leben scheint: „Manchmal möchte man doch auch einfach schreien und alles rauslassen oder einfach sagen `Hey, schaut her. Ich bin schön so, oder?` Außerdem hat mich der Wechsel der Schauspielerin fasziniert, wie sie von ihrer ersten Rolle des katholischen Streber- und Wiesenkindes zur selbstbewussten, aufmüpfigen Frau wechselt. Für mich war das auch ein Denkzettel fürs Publikum – weil alle Erwartungen enttäuscht wurden.“

Wenn auch das Ende etwas abrupt erfolgt, ist das Stück doch auf jeden Fall sehenswert: sehr menschlich und vor allem mutig. Schließlich wird die Intimsphäre radikal gebrochen und unsere inneren Konflikte werden offengelegt. Es bleibt nur eine Frage: Warum impliziert das Stück nicht auch Männer? Auch wenn diese nicht selbst schwanger sind und zugegebenermaßen nicht so schnell Opfer von Gewalt werden wie Frauen, können Männer in unserer Gesellschaft nicht ebensolche Probleme, Geheimnisse und Urängste haben?

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