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Israelkritisches Gedicht 'Was gesagt werden muss': Grass zu krass?

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Kultur

Der deutsche Literatur-Nobelpreisträger Günter Grass hat mit einem israelkritischen Gedicht zum Iran-Konflikt heftige Empörung hervorgerufen. Mehrere internationale Zeitungen hatten den Text am Mittwoch abgedruckt. Einige Kommentatoren halten es für gefährlich, Israel das Recht auf Selbstverteidigung abzusprechen. Andere werfen Grass vor, eine Schmährede zu Marketingzwecken geschrieben zu haben.

Lidové noviny: Gefährlich sind nicht die Neonazis, sondern Leute wie Grass; Tschechien

Die Behauptung von Günter Grass, die Atommacht Israel bedrohe den zerbrechlichen Weltfrieden, ist nach Ansicht der konservativen Tageszeitung Lidové noviny gefährlich: "Grass ist nicht irgendein Unbekannter. Er ist Literatur-Nobelpreisträger und gehört zu denen, die zur öffentlichen Meinungsbildung in Deutschland beitragen. […] Weshalb wirft er Israel und den Iran in einen Topf? Hat er noch nie etwas von den iranischen Drohungen gehört, Israel von der Landkarte auszuradieren? [...] Er unterstützt das Bestreben, dem jüdischen Staat die Legitimation zu nehmen. Gefährlich für Israel sind weder die Altnazis noch die Neonazis. Die schänden hauptsächlich die schon toten Juden. Gefährlich sind Leute wie Grass, die den lebenden Juden und ihrem Staat das Recht auf Verteidigung absprechen." (05.04.2012)

Auszug aus Günter Grass Gedicht: "Was gesagt werden muss"

Warum schweige ich, verschweige zu lange,

was offensichtlich ist und in Planspielen

geübt wurde, an deren Ende als Überlebende

wir allenfalls Fußnoten sind.

Es ist das behauptete Recht auf den Erstschlag,

der das von einem Maulhelden unterjochte

und zum organisierten Jubel gelenkte

iranische Volk auslöschen könnte,

weil in dessen Machtbereich der Bau

einer Atombombe vermutet wird.

[...]

Das allgemeine Verschweigen dieses Tatbestandes,

dem sich mein Schweigen untergeordnet hat,

empfinde ich als belastende Lüge

und Zwang, der Strafe in Aussicht stellt,

sobald er mißachtet wird;

das Verdikt "Antisemitismus" ist geläufig.

[...]

Warum aber schwieg ich bislang?

Weil ich meinte, meine Herkunft,

die von nie zu tilgendem Makel behaftet ist,

verbiete, diese Tatsache als ausgesprochene Wahrheit

dem Land Israel, dem ich verbunden bin

und bleiben will, zuzumuten.

Warum sage ich jetzt erst,

gealtert und mit letzter Tinte:

Die Atommacht Israel gefährdet

den ohnehin brüchigen Weltfrieden?

Weil gesagt werden muß,

was schon morgen zu spät sein könnte;

auch weil wir - als Deutsche belastet genug -

Zulieferer eines Verbrechens werden könnten,

das voraussehbar ist, weshalb unsere Mitschuld

durch keine der üblichen Ausreden

zu tilgen wäre.

[...]

Corriere della Sera: Grass Marketingstrategie ist gerissen; Italien

Mit dem israelkritischen Gedicht "Was gesagt werden muss" tut Günter Grass nur sich selbst einen Gefallen, meint die liberal-konservative Tageszeitung Corriere della Sera: "Grass hat schon immer sehr gute Werbung in eigener Sache betrieben. [...] Dies beweist er nun mit der Veröffentlichung eines Gedichts gegen Israel. Mit kühler Marketingstrategie hat er mehrere Zeitungen ausgewählt, um seine Brechtsche Schmährede gegen die große Lüge vom Stapel zu lassen. […] Grass ist gerissen. Er hat umsichtig die zu erwartenden Anschuldigungen gleich mit gedichtet. Das Problem ist, dass die Anschuldigungen, gegen die Grass sich vorbeugend schützt, alle wahr sind. […] Etwa die 'ureigenen Verbrechen' seines Landes. Sicher, die Vergangenheit ist nicht leicht zu bewältigen, doch kann es sich Grass nicht leisten, ironische Worte zu benutzen über ein so heikles Thema wie die Unterstützung des deutschen Volks bei der Judenvernichtung in Europa. Über solch eine Gefühllosigkeit kann auch die Gedichtform nicht hinwegtäuschen." (05.04.2012)

Neue Zürcher Zeitung: Grass schreibt ein schwammiges politisches Gedicht; Schweiz

Günter Grass bleibt in seiner Israel-Kritik schwammig und undifferenziert, beklagt die liberal-konservative Neue Zürcher Zeitung: "Wie man es besser macht, hat Mitte März der israelische SchriftstellerDavid Grossman demonstriert. [...] Auch Grossman warnt vehement vor einem atomaren Präventivschlag seines Landes. Er rügt die Hermetik von Netanyahus Gedankenwelt, bezweifelt, dass ein israelischer Angriff das iranische Atomprogramm ausschalten könnte, und er hat einen Blick für die skandalöse Kälte, mit welcher die militärischen Planspiele die Opfer unter der Zivilbevölkerung Irans ignorieren. [...] Grossman lieferte eine dezidierte politische Analyse. Grass schreibt ein schwammiges politisches Gedicht. Der Präzeptor Germaniae nutzt die Lyrik, um ichsüchtig und undifferenziert sein zu dürfen." (05.04.2012

tagesschau.de: Prosagedicht von Grass soll und kann dazu beitragen, Israels Existenz sichern zu helfen; Deutschland

Auf dem Nachrichtenportal tagesschau.de empört sich Thomas Nehls über die heftigen Reaktionen auf die Israel-Kritik von Literatur-Nobelpreisträger Günter Grass: "Kaum einer Stellungnahme ist zu entnehmen, dass der Literaturnobelpreisträger sehr wohl auch die iranischen Atomanlagen einer unbehinderten, permanenten und internationalen Kontrolle unterziehen lassen will - aber eben auch die längst existierenden Atomwaffen-Arsenale der Israelis. […] Die meisten Grass-Widersacher formulieren mit Schaum vorm Mund, und sie zeigen sich so, wie es der Präsident der deutsch-israelischen Gesellschaft, Reinhold Robbe, gerade umgekehrt Günter Grass nachsagt, nämlich unwissend über die politischen Verhältnisse im Nahen Osten. […] Zur deutschen Staatsräson gehört es (nicht nur verständlicher-, sondern auch glücklicherweise) Israels Existenz sichern zu helfen. Das Prosagedicht von Günter Grass soll und kann dazu beitragen, dieser Verpflichtung zu entsprechen. Man muss es freilich richtig lesen. Und nicht als Vorlage für bösartige Unterstellungen missbrauchen wollen." (05.04.2012

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Illustrationen: (cc)*King of the Ants*/flickr; Video (cc)Schlagervideo/YouTube

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