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Im Schatten der Vergangenheit

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Politik

Zwischen neuem Nationalismus und wieder entdecktem Selbstbewusstsein: Die Deutschen beginnen, ihre Geschichte anders zu betrachten – ohne sich vollständig von ihr zu lösen.

Können sich die Deutschen aus dem Schatten des Dritten Reichs lösen? So möchte man fragen, betrachtet man die öffentlichen Debatten in Deutschland in den vergangenen Jahren.

Seit Ende des Zweiten Weltkriegs wird das deutsche Selbstbild von der Erfahrung des Nationalsozialismus und der ständigen Auseinandersetzung mit ihm gezeichnet. Die Einforderung (und Verweigerung) der kritischen und oft quälenden Selbstreflektion gehörte zur bundesdeutschen Identität.

Ein neuer Stil

Dies änderte sich mit dem Amtsantritt der rot-grünen Regierung 1998. Denn für die Generation von Gerhard Schröder und Joschka Fischer war das politische Schlüsselerlebnis 1968 und nicht mehr 1933. Der Fall der Mauer hatte die deutsche Teilung überwunden und den Kalten Krieg beendet, welche die direkte Folge des Zweiten Weltkriegs waren. Der Regierungsumzug von Bonn an die Spree begründete die neue Berliner Republik. Sie sollte, so schreibt "Spiegel"-Redakteur Reinhard Mohr rückblickend in "Das Deutschlandgefühl" (2005), "souverän, ohne aufzutrumpfen nach vorne schauend, ohne sich aus der Vergangenheit zu stehlen" sein.

Tatsächlich brachte die rot-grüne Regierung in den folgenden Jahren einen neuen Stil in die Politik. Mit der militärischen Beteiligung am Kosovokrieg und der offenen Ablehnung des Irakkriegs warf sie gleich mehrere Grundsätzen deutscher Außenpolitik über Bord und demonstrierte ein neues Selbstbewusstsein. Mit der Vergangenheit brach sie jedoch nicht, begründete doch der damalige Außenminister Fischer die Intervention im Kosovo mit dem Imperativ "nie wieder Auschwitz!" Auch blieb die Geschichte in den Beziehungen zu den Nachbarn präsent, vor allem gegenüber Polen und Tschechien.

Das eigene Leid rückt in den Vordergrund

Von einem neuen deutschen Nationalismus möchte der an der Technischen Universität Berlin lehrende Historiker Etienne Francois daher nicht sprechen. Er hat sich lange mit dem deutschen Geschichtsbild beschäftigt und erklärt das neue Selbstbewusstsein vor allem mit der wachsenden Entfernung zum Nationalsozialismus. Nur noch wenige Zeitzeugen seien am Leben, erklärt Francois, und die heute Zwanzigjährigen seien zwar im Bewusstsein deutscher Verantwortung aufgewachsen, identifizieren sich jedoch nicht mehr mit der Zeit des Nationalsozialismus. Sie betrachten die eigene Geschichte mit einer Distanz, die ihren Eltern noch unmöglich war.

Vergessen ist die Vergangenheit dennoch nicht. Die Deutschen beginnen, sich für einen Aspekt ihrer Geschichte zu interessieren, dessen Thematisierung lange den Vorwurf von Relativismus und Revanchismus hervorrief: Sie beschäftigen sich mit dem Leid, das ihnen im Krieg zugefügt wurde. 2002 erschien Günther Grass' Novelle "Im Krebsgang", die von der Versenkung des deutschen Flüchtling-Schiffes "Wilhelm Gustloff" kurz vor Kriegsende durch ein russisches U-Boot erzählt. Im selben Jahr startete das Nachrichtenmagazin "Spiegel" eine Serie über Flucht und Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Die derzeitige Debatte um ein "Zentrum gegen Vertreibung", dass der "Bund der Vertriebenen" in Berlin einrichten will, oder die neue Ausstellung "Flucht, Vertreibung, Integration" im "Haus der Geschichte" in Bonn sind ebenfalls Zeichen dieses neuen Interesses. Glauben die Deutschen, das Thema sei zu lange verschwiegen worden? Etienne Francois weist diese Idee zurück. Er erinnert daran, dass sich die Deutschen nach dem Krieg in erster Linie als Opfer sahen und sich erst spät zu ihrer Verantwortung als Täter bekannten.

Kein Glaube an die Leitkultur

Den Deutschen fällt es immer noch schwer, zu definieren, was sie als Gemeinschaft zusammenhält. Konservative Politiker haben wiederholt versucht, einen deutschen Patriotismus zu begründen. Vor dem Hintergrund der Diskussion um das Zuwanderungsgesetz, versuchten die Christdemokraten bereits im Jahr 2000 Grundwerte festzulegen, welche Ausländer einhalten sollten, wenn sie in der deutschen Gesellschaft leben wollten. Doch auch der Begriff dieser "deutschen Leitkultur" blieb vage. Denn, so fragt Mohr, "existiert etwa ein Kanon dessen, was das politisch-kulturelle Deutschsein ausmacht"? Schon der Soziologe Eugen Lemberg schrieb 1964, eine Nation definiere sich weniger über ein gemeinsames Merkmal, als durch den Glauben an eine solche Gemeinsamkeit. Wahrscheinlich ist in Deutschland jedoch die Skepsis gegenüber allem Nationalen weiterhin zu groß, um diesen notwendigen Glauben aufzubringen.

Für Europa ist es eine gute Nachricht, dass die Deutschen ihre Vergangenheit nicht vergessen. Denn die schmerzhaften Erfahrung der Vergangenheit begründet jene Notwendigkeit, nationale Gegensätze zu überwinden, die der Idee und dem Erfolg Europas zugrunde liegt. Wenn die Deutschen also mit neuem Selbstbewusstsein auftreten, muss dies kein Grund für Besorgnis sein – solange sie ihre Skepsis gegenüber einem rekonstruierten Nationalismus bewahren.