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Im Auge des Orkans

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Wie junge Aktivisten in Russland die Illusion der Macht überwinden.

"Am 5. Mai gab es eine Demo für die Legalisierung von Hanf in der Moskauer Innenstadt. Sie verhafteten drei Teilnehmer. Wir gingen wie gewöhnlich mit einer Gruppe hinterher und fragten nach dem Grund. Die Beamten sagten: 'Kommen sie auf die Wache. Dort erklären wir alles.' Sie nahmen uns fest: verdrehten uns die Arme hinter dem Rücken, warfen uns auf den Asphalt und schlugen den Jungs die Köpfe auf den Boden. Sie würgten uns und verhafteten zehn Menschen. Schließlich beschuldigten sie uns der Drogenpropaganda und des Widerstands gegen die Staatsgewalt." Julia, 25, Moskauer Aktivistin des Netzwerks Youth Human Rights Movement (YHRM), lacht ungläubig angesichts der Vorgänge, die sie schildert. "Wir haben nur die Legalisierung von Hanf gefordert, das ist legal! Unsere Fälle wurden die ganze Nacht hindurch vor Gericht verhandelt. Den Mädels wurden Geldstrafen verordnet, den Jungs 10 bis 15 Tage Arrest." Seit einem halben Jahr konzentriert sich Julias Gruppe von YHRM-Aktivisten darauf, das Verfassungsrecht auf Versammlungsfreiheit in der Praxis durchzusetzen. Es ist - angesichts zahlreicher Gesetzesverstöße von staatlicher Seite - eine Sisyphus-Arbeit.

Papa Kreml

Der russische Staat, das erzählen europäische Medien seit langem, ist eine Machtmaschine, die zunehmend die Freiheiten der Bevölkerung unterdrückt. Im Zentrum liegt der Kreml, im Führerhäuschen steht der Präsident. Diese Ansicht lässt sich gut belegen, mit Geschichten von Menschen wie Julia etwa. Doch sie hat mit der offiziellen Propaganda mehr gemein, als es scheint: Denn wie die Kreml-Propaganda ist sie auf den Staat, die Souveränität fixiert. "Die Leute in Russland brauchen immer einen Papa", meint dazu ein junger Mann, der sich selbst als 'freien Radikalen' bezeichnet. Kann es sein, dass es diese Fixiertheit auf die Autorität ist, die machtlos macht im Angesicht der Macht? "Der Kreml" schafft die Wirklichkeit, an deren Rändern die "Demokraten" für die "Freiheit" kämpfen. Die schwache Opposition trudelt im Sog eines Sturms, in dessen Auge Putin, der Kreml, Moskau imaginiert wird. Alles dreht sich um dieses Auge, das allein ruht und sieht. Und das russische Roulette droht all jenen, die sich gegen dieses Zentrum auflehnen.

Den Orkan bezwingen

Dmitri Makarovs Revolution will mehr sein als eine solche Karussellfahrt da capo al fine. "Es geht uns in unserer Arbeit darum, einen neuen sozialen Raum zu schaffen, in dem die Werte der Menschenrechte geachtet werden“, meint der YHRM-Jurist. Und es gibt Orte, an denen dieses Vorhaben besser gelingt als auf Moskaus Straßen, wie die Soziologische Fakultät (SozFak) der Moskauer Staatlichen Universität (MGU). Dort ist es Dmitri und dem YHRM mit einer Gruppe unzufriedener Studente, gelungen, dem rhetorischen Sturm der Macht etwas Eigenes entgegenzusetzen..

Aus Dmitrijs Sicht gleichen die Zustände an der SozFak einem autoritären politischen System im Kleinen: "Da gab es ein strenges Regime unter dem Dekan, und eine passive Studentenmehrheit. Unzufriedene Dissidenten diskutierten die Lage in der Wohnheimküche." Eine Handvoll kritischer Studenten gründete die Aktionsplattform "od group". Alexandrina erklärt die Hierarchie der SozFak: "Der Dekan ernennt die Mitglieder des Wissenschaftlichen Rates, und der Rat wählt wiederum den Dekan. Das ist ein geschlossener Kreis." Ihre Mitstreiterin Elja fügt hinzu: "Bei einer Versammlung sind Studentenvertreter scharf gegen uns aufgetreten und haben uns sogar als Extremisten bezeichnet." Kritische Stimmen, so Elja, seien als "Provokateure" hingestellt worden, als "Bedrohung der staatlichen Ordnung". Auch die Lehre an der Fakultät sei mangelhaft: Aktuelle Theorien würden nicht unterrichtet, in Seminaren werde kaum diskutiert. Viele Studenten kämen durch Bestechungen an die Fakultät und nicht wegen ihres Wissens und Interesses.

Anfang des Jahres begann die "od group" mit Protestaktionen. Am 28. Februar verteilten sie Flugblätter mit ihren Forderungen vor der Fakultät. Nach nur wenigen Minuten wurden die Studenten wegen "nicht genehmigter Nutzung von Massenmedien" verhaftet. Der Vorfall wurde zum Politikum, weil der unabhängige Radiosender Echo Moskau und mehrere Zeitungen vor Ort waren. Der Dekan der SozFak, Wladimir Dobrenkow, verurteilte die Aktivitäten der Studenten als "Extremismus". Die Studenten wehrten sich. Sie erreichten beim MGU-Rektor, beim Bildungsministerium und der staatlichen Gesellschaftskammer die Einsetzung von Kommissionen zur Untersuchung der Qualität der Lehre. Im Ergebnis vertröstete sie das Rektorat auf einen langsamen Wandel; die Gesellschaftskammer beurteilte den Unterricht als mangelhaft; und Experten des Bildungsministeriums entdeckten, dass die Lehrbücher des SozFak-Dekans Dobrenkow zu großen Teilen abgeschrieben waren – Plagiat!

Klimawandel

Mittlerweile hat der Protest der "od group" einiges in Bewegung gesetzt: Eine wachsende kritische Öffentlichkeit hat sich gebildet. Wissenschaftler, Journalisten und Bürger aus dem In- und Ausland haben sich mit der "od group" solidarisch erklärt. Vor allem aber hat an der Fakultät ein Klimawandel eingesetzt: Kritisch denkende Studenten treten mit ungekanntem Selbstbewusstsein auf. Doch Erfolge bleiben Etappensiege, solange gegen das Dekanat weitere Schritte von der Leitung der MGU ausbleiben.

Bereits jetzt wirken die Aktionen der "od group" jedoch weit über die MGU hinaus: Über das Internet und persönliche Kontakte verbreiten sich Geschichten über die kleine Revolution im ganzen Land. Der Dekan ist eine Witzfigur geworden. Die Erfolgsgeschichte ist eine symbolische Ressource, die jungen Menschen helfen kann, über die Mächtigen zu lachen und selbst aktiv zu werden. Und das in einem Land, wo alle auf den Kreml schauen, und der Kreml allein deshalb alle sehen kann.