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EU-Kulturhauptstadt 2016: Wie Breslau Geschichte in der Zukunft schreiben will

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Kultur

Eine Momentaufnahme aus dem Kino Lwów in Breslau (Polnisch: Wroclaw) - der Europäischen Kulturhauptstadt 2016.

Es ist ein schwüler Tag Mitte Juni. In 354 Tagen wird mit der Euro 2012 das Fußball-Turnier angepfiffen, auf das Polen und die Ukraine sich seit Jahren vorbereiten. Und drei Tage später sollte eine Kommission in Warschau entscheiden, welcher der fünf polnischen Kandidaten den Titel der europäischen Kulturhauptstadt 2016 verliehen bekommt. Die Wahl ist auf Breslau gefallen. Euro 2012 und Kulturhauptstadt 2016-Fähnchen hängen am Marktplatz einträchtig nebeneinander. Und dann ist an diesem Wochenende auch noch der Internationale Tag des Flüchtlings. Aus diesem Anlass findet im Breslauer Kino Lwów das „Refugee Film Festival“ statt.

Droht die Schließung im September 2011?Das Kino Lwów ist ein Anachronismus. In dem 1897 errichteten Gebäude war vor dem 2. Weltkrieg der „Roxy Filmpalast“ untergebracht. Die heutige Einrichtung stammt aus den besseren Tagen der Volksrepublik Polen. Gezeigt wird Marco Pasquinis Dokumentarfilm Gaza Hospital. Es geht um den Libanon in den 1980er Jahren, um Bürgerkrieg und palästinensische Flüchtlinge. Dabei hätte Breslau seine eigene Flüchtlingsgeschichte zu erzählen.

Nach 1945 tauschte Breslau, einst deutsche Großstadt, beinahe seine komplette Bevölkerung aus und wurde zum polnischen Wrocław. Die eine Hälfte dieser Geschichte ist in Deutschland gut bekannt. Doch hier soll es nicht um die deutschen Heimatvertriebenen gehen. Denn auch die neuen Einwohner der im Jargon der Volksrepublik „wiedergewonnen“ genannten Gebiete verließen ihre alte Heimat nicht freiwillig gen Westen.

Überbleibsel des Protests der Gruppe "Orange Alternative" gegen den KommunismusDiese Geschichte wird ebenfalls erzählt im Kino Lwów. Auf einer 1989 angebrachten Tafel heißt es da: „In Erfüllung der Wünsche der in Breslau lebenden Lemberger wurde dem Kino die Bezeichnung Lwów gegeben“. Als Stalin mit dem Segen der Westalliierten die Grenzen in Europa neu zog, wurde aus dem polnischen Lwów die Stadt Lviv in der ukrainischen Sowjetrepublik. Für deutsche Zungen spricht sie sich nach wie vor leichter als Lemberg aus, so wie die galizische Metropole auch im 19. Jahrhundert als Teil der k.u.k.-Monarchie hieß. Lemberg war für die polnische Kulturgeschichte ebenso bedeutend wie Breslau für die deutsche. Und viele polnische Lemberger fanden ihre neue Heimat nach 1945 in Breslau.

Wenn am 8. Juni 2012 das erste EM-Spiel in Breslau angepfiffen wird, ist das Kino Lwów schon Geschichte. Immer weniger Besucher verirrten sich zuletzt hierher, vielleicht schon im September wird es geschlossen. „Gemeinsam Geschichte schaffen“, hat sich der europäische Fußballverband UEFA als Motto für das Turnier auf die Fahnen geschrieben. Auch das ukrainische Lemberg ist EM-Austragungsort. Nutzen die beiden Städte die Chance, ihre gemeinsame Geschichte neu zu entdecken? Die Frage sorgt für eine kurze Irritation im EM-Vorbereitungsbüro am schick herausgeputzten Breslauer Marktplatz. Nein, gemeinsame Projekte gebe es nicht, und das „Geschichte schaffen“ beziehe sich wohl eher auf die Zukunft als auf die Vergangenheit.

Robert Kalimullin ist Autor des Reiseführers „CityTrip Krakau“. Zurzeit arbeitet er gefördert von der Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit an einer Publikation über die polnisch-ukrainische Fußballgeschichte.

Fotos: Homepage  (cc)offizielle FB-Seite von Wroclaw; Kino ©Robert Kalimullin; Zwerge (cc)coincidentalimage/flickr