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„Dritter Weg“ oder Wolf im Schafspelz?

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Die Lissabon-Strategie stand im Zeichen des „Dritten Wegs“ von Tony Blair und Gerhard Schröder. Können wir mehr von ihr erwarten als Liberalisierung und Sozialabbau?

Die Lissabon-Strategie sei seine oberste Priorität, erklärte der designierte EU-Kommissionspräsident José Barroso. Damit übernimmt der konservative Politiker ein Projekt, das im Frühjahr 2000 von mehrheitlich sozialdemokratischen Staats- und Regierungschefs verabschiedet worden war. Getragen vom Elan des „Dritten Wegs“, mit dem vor allem der britische Premierminister Tony Blair und der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder ihre Volkswirtschaften reformieren wollten, übertrugen diese ihre ehrgeizigen Ziele auf die Gemeinschaftsebene. Zum Schrecken vieler Parteigenossen waren es jedoch überwiegend neoliberale Rezepte, mit denen Blair und Schröder bereits im Jahr zuvor im gemeinsamen Papier „Der Weg nach vorn für Europas Sozialdemokraten“ aufgewartet hatten. Setzt die Lissabon-Strategie lediglich auf den Markt, oder sind auch „soziale“ Elemente erkennbar?

Alles drin, von Kyoto bis Subventionsabbau

Die Absichtserklärungen der Lissabon-Strategie klingen durchaus vielseitig. Zwar verweisen die Zielformulierungen wie „größere Anreize für die Aufnahme von Beschäftigung“ zu schaffen sowie den Wettbewerb im Binnenmarkt zu intensivieren, auf starke neoliberale Tendenzen. Andererseits soll die Erwerbstätigkeit von Frauen insbesondere durch bessere Betreuungsangebote für Kinder erhöht werden – hier sehen die Schöpfer der Strategie also durchaus staatliche Eingriffe vor. Für einen weitsichtigen Ansatz spricht auch die wesentliche Berücksichtigung ökologischer Fragestellungen, insbesondere die Umsetzung des Kyoto-Protokolls. In der Realität musste sich allerdings erst zeigen, welchen dieser Ideen besonderes Gewicht verliehen würde.

Das britische Forschungszentrum Centre for European Reform (CER) dokumentiert seit 2001 die Maßnahmen, die im Namen der Lissabon-Strategie verwirklicht werden. Sein Resümee für den Bereich der Unternehmenspolitik weist darauf hin, dass die Palette der Aktivitäten tatsächlich bunt ist. Zum einen findet sich, wie zu erwarten, eine Politik der Steuersenkungen. Belgien, Dänemark und Irland senkten die Abgabenbelastung für die vergleichsweise arbeitsintensiven kleinen und mittleren Unternehmen, Estland schaffte die Besteuerung für reinvestierte Profite ab. Auch die Reduktion der finanziellen Aufwendungen für Firmengründungen, unter anderem in Österreich vorgenommen, stellt ein neoliberales Element dar. Andererseits wurden zum Beispiel in Belgien, Griechenland, Polen und Litauen Unternehmerkurse als Teil der Schulbildung eingeführt. Bis 2000 konnten diese Kurse nur in den „linken“ nordischen Ländern belegt werden.

Als weitere Maßnahme findet sich ein weit greifender Subventionsabbau. Nach der neoliberalen Theorie sind Subventionen – bis auf wenige Ausnahmen – grundsätzlich abzulehnen. „Lissabon“ richtet sich jedoch vor allem gegen Direktbeihilfen für bestimmte Sektoren, die als besonders marktverzerrend gelten. Beihilfen für Forschung und Entwicklung und Unterstützungsmaßnahmen für kleine und mittlere Unternehmen dürfen dagegen weiterhin geleistet werden.

Übertriebene Befürchtungen

Die Beispiele zeigen, dass die allgemeinen Absichtsbekundungen der Lissabon-Strategie auch in der Praxis wiederzufinden sind. Der teilweise Rückzug des Staates aus einigen wirtschaftlichen Bereichen spielt zwar eine wichtige Rolle in den Reformen, denen das Lissabon-Label anhaftet; Befürchtungen vor einer „Amerikanisierung“ der europäischen Wirtschaft sind jedoch unzutreffend. Die Lissabon-Strategie enthält eine breite Anzahl unterschiedlicher Ansätze, die nicht gänzlich neue Ideen darstellen, sich aber auch nicht darauf beschränken, das Recht des (wirtschaftlich) Stärkeren wiederaufleben zu lassen. Dass auch Schröder und Blair hinter dieser Herangehensweise stehen, zeigt der Brief, den sie im Februar zusammen mit Frankreichs konservativem Präsidenten Jacques Chirac verfassten. Sie betonten darin zwar die Notwendigkeit, die sozialstaatlichen Systeme zu modernisieren – was hier insbesondere Ausgabenkürzung heißt; gleichzeitig mahnten sie die Erhöhung der Forschungsausgaben an, die nicht nur privat getragen werden sollten, und forderten effektivere Möglichkeiten zur staatlichen Innovationsförderung.

In vieler Hinsicht kann die Strategie von Lissabon kritisiert werden – das CER beispielsweise nennt eine nicht ausreichend konsequente Umsetzung der Vorhaben, das Litauische Free Market Institut stellt inhaltliche Widersprüche fest. Dennoch stellt die Strategie einen ernsthaften Versuch dar, auf die Probleme unserer Wirtschaft und unserer Sozialsysteme mit vielseitigen Maßnahmen zu reagieren, und setzt dabei keineswegs nur auf die neoliberale Wirtschaftstheorie.